Obwohl Europa sich schneller erwärmt als andere Erdteile und die Schadenskosten und Einkommensverluste durch die Folgen der Erderhitzung immer größer werden, geraten Klimapolitik und Ressourcenschutz in allen Ländern unter Druck.
Denn Wirtschaft, Politik und offenbar auch die Mehrheiten der diese wählenden Bevölkerung stellen Wirtschaftswachstum und Migrationsbekämpfung an die erste Stelle ihrer Interessen. Konsequent kürzen EU und Regierungen Auflagen des Ressourcenschutzes, verschieben Lieferketten- und Berichtspflichten und erweitern Emssionsgrenzwerte für Pkw-Flotten.
Das deutsche Regierungsprogramm 2025 ist da nur ein Beispiel von vielen: Es reduziert den Schutz von Klima und Umwelt – und die soziale Gerechtigkeit. Stattdessen müsste sie gerade in der sich verschärfenden Mehrfachkrise Gesellschaft und Natur stärken, weil deren Funktionieren die Voraussetzung für eine weniger bedrohlichere Zukunft und Lebenswelt wäre – wie die Wissenschaft seit langem und immer wieder deutlich macht.
Erdüberlastung bedroht Sicherheit und Wirtschaft
Dass die Überlastung von Natur und Atmosphäre zu groß ist, die planetaren Grenzen erreicht und die Folgen lebensgefährliche Instabilitäten sind, ist eine immer wieder erneuerte Warnung der Klima- und Biodiversitätsforschung. Dass ein Zurückdrängen der Überforderung nur gelingt, wenn die erforderlichen Maßnahmen dem Leistungsvermögen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen angepasst sind, ist ebenfalls eine lange bekannte Erkenntnis.
In der Nationalen Interdisziplinären Klimarisiko-Einschätzung erkennt selbst der Bundesnachrichtendienst (BND) "die Folgen des Klimawandels wie Destabilisierung und Migration neben einem aggressiv-expansiven Russland, weltpolitischen Ambitionen Chinas, zunehmenden Cyber-Gefahren sowie dem weiterhin virulenten internationalen Terrorismus als eine der fünf großen externen Bedrohungen für unser Land."
Es sei nicht nur aus ökonomischer und ökologischer, sondern auch aus sicherheitspolitischer Sicht im Interesse Deutschlands und der EU, den Klimawandel zu bremsen und die Dekarbonisierung zu beschleunigen, heißt es auf der einladend gestalteten Website zum Sicherheitsbericht des BND.
Klimapolitik als Sicherheitsstrategie
"Europa sichern heißt Klima schützen" titelt daran anknüpfend die Pressemitteilung zu einem neuen "Policy Brief" des Helmholtz-Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit Potsdam. Darin fordern die Autor*innen vom Research Institute for Sustainability (RIFS), Klimapolitik als integralen Bestandteil europäischer Sicherheitsstrategie zu verankern.
Der Bericht “1,5°-Lebensstile durchsetzen: Nachhaltige Sicherheit durch Klimapolitik” entstand im Rahmen des länderübergreifenden EU-Forschungsprojekts „1.5° Lifestyles“. Er argumentiert: Bürgerinnen und Bürger in Europa sind bereit, tiefgreifende Veränderungen mitzutragen – vorausgesetzt, die politischen Rahmenbedingungen sind fair, verlässlich und ambitioniert.
Auch wenn derzeit Themen wie Wirtschaftswachstum, industrielle Wettbewerbsfähigkeit und Verteidigung die politische Agenda dominieren: Wer Klimaziele heute zur Nebensache erkläre, gefährde Europas langfristige Resilienz, Stabilität und Demokratie, heißt es. Klimapolitik ist keine Zugabe – sie ist Voraussetzung für dauerhafte Sicherheit, so die Botschaft des Berichts.
„Wirtschaftliche und militärische Sicherheit sind wichtige Bestandteile“, sagt Professorin Doris Fuchs, wissenschaftliche Direktorin am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) am GFZ – und bekannt für ihre Forschungen zu ressourcen- und klimaschützenden "Konsumkorridoren". „Aber wenn wir den Klimawandel und den ökologischen Verfall nicht jetzt bekämpfen, untergraben wir die Grundlagen von Frieden und Wohlstand." Ein realistischer Sicherheitsbegriff müsse auch Klimaresilienz, soziale Gerechtigkeit und ein Leben innerhalb planetarer Grenzen umfassen.
Europäer*innen wollen ambitionierte, gerechte Klimaschutzmaßnahmen
Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Menschen tiefgreifende Lebensstiländerungen ablehnen, zeigen die Ergebnisse des EU-Projekts „1.5° Lifestyles“ ein anderes Bild: In allen untersuchten Ländern sprechen sich die Bürger*innen für ambitionierte Maßnahmen aus – sofern diese gerecht und wirksam gestaltet sind. Gefragt seien deswegen klare Rahmenbedingungen, die klimaschädlichen Konsum regulieren, Verantwortung fair verteilen und nachhaltige Alternativen attraktiver machen.
Weil Freiwilligkeit allein nicht mehr reiche, empfehlen die Autor*innen die gezielte Regulierung emissionsintensiver Bereiche – etwa bei fossilen Fahrzeugen, übermäßigem Fleischkonsum, ineffizienten Heizsystemen, Luxus-Emissionen und häufigem Kurzstreckenflugverkehr. Gleichzeitig müssten klimafreundliche Optionen – von ÖPNV über Wärmepumpen bis zu pflanzlicher Ernährung – zur bequemeren und günstigeren Wahl werden.
Deutschland: Höchste Emissionsbilanz pro Kopf
Für Deutschland zeigt der Policy Brief ein ambivalentes Bild: In puncto Wohnen und Mobilität braucht es mehr öffentliche Infrastruktur. Während Wärmepumpen auf breite Zustimmung stoßen, fehlt diese beim Thema Wohnflächenverkleinerung. Dabei lag die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf bereits 2015 bei 45 Quadratmetern – und steigt seitdem weiter.
Besonders auffällig ist in Deutschland offenbar die Ablehnung gegenüber E-Autos – sie ist deutlich stärker als in anderen untersuchten Ländern wie Spanien, Schweden, Lettland oder Ungarn. Das dürfte nicht zuletzt an der einflussreichen deutschen Automobilindustrie liegen. Insgesamt habe Deutschland 2015 mit 9,5 Tonnen Kohlenstoffdioxid pro Kopf und Jahr die höchste durchschnittliche Emissionsbilanz der untersuchten Länder – ein Befund, der politischen Mut und Konsequenz verlange.
Stattdessen widerspräche die weiterhin laufende Förderung von Erdgas allen klimapolitischen Zielen. Nötig seien politische Instrumente, die nachhaltige Lebensstile ermöglichten und gleichzeitig nicht nachhaltige Praktiken gezielt zurückdrängen würden.
Was die Politik stärken sollte
Der aus den Studienergebnissen entstandene Policy Broef formuliert sechs konkrete Handlungsempfehlungen:
- Lebensstile in Klimapolitik integrieren
Nationale und europäische Klimastrategien müssen über technologische Lösungen hinausgehen und klimaschädliche Konsummuster direkt adressieren. - Nachhaltigkeit zum Standard machen
Der Staat sollte massiv in öffentliche Infrastruktur investieren – etwa in bezahlbaren ÖPNV, energieeffizientes Wohnen und gesunde Ernährungssysteme. - Gerechtigkeit als Leitprinzip verankern
Regulierungen müssen soziale Ausgewogenheit gewährleisten und Beteiligung ermöglichen. - Politische Konsistenz zeigen
Halbherzige Botschaften und schwammige Gesetze gefährden das Vertrauen der Bevölkerung. - Wohlbefinden neu definieren
Fortschritt darf nicht am Bruttoinlandsprodukt gemessen werden, sondern an Gesundheit, Gerechtigkeit und sozialem Zusammenhalt. - Demokratische Teilhabe stärken
Bürgerinnen und Bürger wollen den Wandel mitgestalten. Transparente und inklusive Prozesse sind entscheidend für gesellschaftlichen Rückhalt.
Zukunft vor Wachstum
In der finalen Konferenz des 1,5°-Lifestyles-Projekts hatten Anfang April 2025 mehr als 500 Wissenschaftler*innen im schwedischen Lund über die Wege zur sozial-ökologischen Transformation diskutiert. In seiner Keynote bekräftigte Nachhaltigkeitsexperte Tim Jackson: Eine lebenswerte Zukunft sei möglich – sie verspreche Vorteile für Mensch und Umwelt. Aber sie erfordere die Abkehr von Wachstum als leitende Priorität.
Leitfaden zum EU 1.5°-Lifestyle
Im Projekt zu 1,5-Grad-Lebensstilen in der EU sind in den letzten vier Jahren eine Fülle von Materialien zu einem klima- und umweltverträglichen, ressourcenleichten Lebensstil entstanden.
Der "Leitfaden zur Verringerung der durch uns verursachten Klimafolgen für ein gesünderes und gerechteres Leben" von GreenDependent, adelphi, RIFS und Hot or Cool ist zum Beispiel eine bündige Zusammenfassung dessen, wie Menschen ihren 1,5-Grad-Lebensstil entdecken und entwickeln können – und wie sie den darüber hinaus notwendigen politischen Wandel der Strukturen anregen können.
So zeigen die aus dem Projekt hervorgegangene Studien umsetzbare Lösungen, die auf die Bedürfnisse der fünf untersuchten Länder abgestimmt sind.
Grafik-Tool zum internationalen Vergleich
Unter den Instrumenten findet sich auch ein interaktives Grafik-Tool, mit dem man sich die CO2-Emissionen pro Kopf und Jahr von fast 60 Ländern und Regionen der Erde anzeigen lassen kann – von “Australia” bis “World”. Und das klickbar für verschiedene Jahre von 2015 an in Fünf-Jahresschritten bis 2050, wenn weltweit Klimaneutralität erreicht sein sollte. Dazu sind die Pro-Kopf-Klimaziele 2030 und 2050 markiert.
Dabei wird deutlich, dass viele Länder seit 2015 zwar teilweise starke Reduktionen erreicht haben, aber gerade die entwickelten reichen Länder die erforderlichen Ziele für 2030 und 2050 unter den bisherigen Prognosen nicht annähernd erreichen werden. In Ländern wie China und Indien sowie im größten Teil Afrikas liegen dagegen die Pro-Kopf-Emissionen immer noch unter dem 2030er Ziel von knapp 2,3 Tonnen CO2 pro Jahr.
Das Ziel für 2050 von rund 0,8 Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr erreichen aber auch sie nicht – und ebensowenig die Welt. Es muss also politisch und wirtschaftlich wesentlich mehr zum systemischen Klimaschutz passieren, wenn sich die Menschen einigermaßen verlässliche Lebensgrundlagen und friedliche Verhältnisse sichern wollen.
- Maßvoll leben: Wohlstand ist für die meisten Menschen – und für die bisher linear produzierende Wirtschaft - mit materiellem Besitz verbunden. Ein anderes Wohlstandsverständnis ist nötig und möglich.
- Falsche Ansichten für richtiges Leben: Wer viel hat, ist glücklich; wer hohe Position besitzt, wertvoll. Die richtige Selbstbewertung kann zum ressourcenschonenden Lebensstil führen.
- Freiwillig nur unter Zwang: Nur durch Appelle an den guten Willen lässt sich eine nachhaltiger Wandel nicht erreichen. Was brauchen wir?
- Der Stil entscheidet: Individuelle Wohn- und Lebensstile haben erheblichen Einfluss auf den Ressourcenverbrauch und damit die Treibhausgasemissionen. Doch Lebenstile sind abhängig von Infrastrukturen, und auch die die von der Gestaltung.
- Change by Design: Das Desaster gestaltet die Welt und die ressourcenintensiven Gesellschaften und Wirtschaft reagieren zunehmend mit Abwehr statt mit der Annahme von Lösungen. Bessere Beteiligungsprozesse könnten das ändern.