Vielfalt
Plural statt monologisch
Klimakrise, Artenkrise, wiederkehrende Wirtschaftskrisen – sie alle verlangen andere Herangehensweisen als die der etablierten Wirtschaftswissenschaft. Nötig wäre eine stärkere ökologische und soziale Betrachtung statt klassischer Theorie, ein Wirtschaftsdenken zu Kreisläufen, begrenzten Ressourcen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Doch gedacht, verbreitet und gelehrt wird immer noch zu monologisch, statt die ganze Vielfalt der Ansätze zu nutzen. Ganz anders dagegen die Ideen der Pluralen Ökonomik und der Economists for Future.
Von David J. Petersen und Claudia Schupp
Man mag es zwar langsam nicht mehr hören und lesen, aber es ist ja tatsächlich so: Sowohl die Corona-Pandemie als auch die Klima- und Artenkrise stellen die Wirtschaftswissenschaften vor entscheidende Herausforderungen. Doch mit den bisherigen Methoden lassen sich offenbar derartige multiple Krisen nicht lösen, eher etablieren sie noch die Bedingungen für ihre Anfälligkeit. Dabei sind es maßgeblich Ökonom*innen, die den Diskurs um Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsverständnisse prägen und über Beratungsgremien auf politische Entscheidungsprozesse einwirken.
Immerhin: In der Debatte um ein wirkungsvolleres nachhaltiges Wirtschaften fällt in jüngster Zeit schon häufiger das Stichwort “plurale Ökonomik”. Deren Vertreter*innen plädieren – vor dem Hintergrund einer zunehmend komplexen, ökonomischen Wirklichkeit – für eine vielfältige Betrachtung der Wirtschaft. Ihrer Ansicht nach führt jede Abstraktion einzelner Theorien zu Leerstellen und Ausblendungen, die sich aber durch verschiedene Perspektiven reflektierten ließen. Zudem würde eine Vielfalt von ökonomischen Forschungsansätzen dazu beitragen, eine wirkungsvolle Krisenbewältigungspolitik wahrscheinlicher werden zu lassen. Plurale Ökonomik folgt daher keinem Selbstzweck, sondern ist essenziell, um ein möglichst umfassendes Verständnis von Wirtschaft zu erlangen.
Dabei ist die Kritik an den grundsätzlichen Engführungen und der einseitigen Betrachtung von Wirtschaft als Markt gar nicht so neu. Mit mit der Finanzkrise 2008/2009 erhielt sie dann neuen Aufschwung. Ökonom*innen mussten sich ihrerseits verstärkt rechtfertigen, den Crash nicht vorhergesehen zu haben. Noch heute wird der Ökonomik vorgeworfen, mit ihren Konzepten zu jenen finanzmarktlichen Exzessen erst beigetragen zu haben und weiter beizutragen, nach dem Motto: Die nächste „Blase“ kommt bestimmt. Wie so häufig kamen die konstruktiven Ansätze von den Jüngeren: In Deutschland sind es maßgeblich Studierende, die an inzwischen über 30 Universitätsstandorten organisiert und unter dem Dach des Netzwerks Plurale Ökonomik e.V. vernetzt sind.
Zeitgemäßer, interdisziplinärer und realitätsnäher
Drei Grundmotive prägen ihr Anliegen: Erstens fordern vor allem Studierende der Volkswirtschaftslehre (VWL) eine zeitgemäße ökonomische Lehre ein. Sie kritisieren die einseitige Ausrichtung der ökonomischen Theorie auf die neoklassische Synthese und die fehlende Vermittlung von Ideengeschichte, wissenschaftstheoretischen Hintergründen und Interdisziplinarität. Zudem beschränkt sich die bisherige Methodenausbildung auf mathematische und statistische Verfahren, ohne dass implizite Annahmen und Limitationen ausreichend behandelt werden. Viel Raum für Reflexionen und Diskussionen ist nicht vorgesehen. Neben der Didaktik kritisieren die Studierenden ebenso die standardisierte Lehre. Prominente Lehrbücher gelten ihnen dabei als nachweislich einseitig und teilweise manipulativ.
Zweites Grundmotiv ist die wachsende wissenschaftliche Neugier gegenüber der Vielfalt ökonomischer Ansätze. Jedoch haben sich in der Ökonomik institutionelle Pfadabhängigkeiten herausgebildet, die eine systematische Ausgrenzung anderer ökonomischer Perspektiven verstärken. Jene erhalten oftmals – wenn überhaupt – nur außerhalb von wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten Forschungsmöglichkeiten. Auch gibt es dort kaum Berufungen von Ökonom*innen mit alternativen ökonomischen Perspektiven. Diese Kritik geht somit über eine reine Kritik der Lehre hinaus. Gleichzeitig stoßen gerade die marginalisierten Perspektiven auf ein hohes Interesse von Studierenden benachbarter Disziplinen. Denn in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen bleiben ökonomische Fragestellungen generell eher unterbelichtet. Die VWL-Grundlagenveranstaltungen können das Bedürfnis danach auch nicht erfüllen.
Daran schließt drittens eine allgemeine Kritik an, die die Realitätsferne von Modellen und Theorien betrifft. Hier gibt es sowohl die Forderung nach einer stärker evidenzbasierten Wirtschaftspolitik, als auch danach, ethische Erwägungen und eine Sensibilisierung für die in den Modellen und Annahmen zugrunde liegende Werte, die so genannte Normativität, in den Vordergrund zu rücken. Hierbei lässt sich auch die Wirkmächtigkeit, die Konkretisierung ökonomischer Ansätze hinterfragen. Ein Beispiel ist die bekannte Metapher der unsichtbaren Hand des Marktes: Diese Vorstellung betrachtet die Preisbildung als ein bloßes Ergebnis von Angebot und Nachfrage. Der Frage nach dem Guten Leben für alle wird hierbei ebenso aus dem Weg gegangen wie einer Thematisierung staatlicher Infrastrukturen und Rahmenbedingungen, ungleicher Machtverhältnisse sowie der Rolle von Pfadabhängigkeiten.
Aus all diesen Gründen setzt sich das Netzwerk Plurale Ökonomik für eine Reform der ökonomischen Lehre ein. Der Ansatz einer pluralen Ökonomik bietet hierbei zugleich eine Neuorientierung an, um sich der Komplexität der Welt angemessen zu stellen. Dies erfordert Offenheit und Neugier, bestehende und neue Ansätze entdecken zu wollen, sich irritieren zu lassen und in umfassenden Betrachtungen zu üben.
Jüngste politische Entscheidungen, wie die Einrichtung einer Professur für Plurale Ökonomik an der Universität Flensburg, deuten darauf hin, dass die Politik das Potenzial einer pluralen Ökonomik, zumindest in einem gewissen Maß, zunehmend erkennt. Selbstverständlich wäre es auch eine Chance für die Akzeptanz von Politik, wenn diese ihre wirtschaftspolitischen Beratungsgremien pluraler aufstellen würde.
Für eine Wirtschaft der Zukunft
Die noch recht junge, im Zuge der Fridays-for-future-Bewegung entstandene Initiative Economists for Future baut genau auf diesen plural-ökonomischen Ansatz auf, geht jedoch noch einen Schritt weiter: Angesichts sich verschärfender, existenzieller Krisen rückt sie die Frage nach einem tiefgreifenden Strukturwandel in den Fokus. Die enorme Lücke zwischen vorliegenden Erkenntnissen und angemessenem Handeln bildet den Antrieb für einen gemeinsamen Entwicklungsprozess, um zentrale Erkenntnisse der Klimakrise in wirksame politische und institutionelle Veränderungen zu überführen. Dies erfordert, dass auch Wirtschaftswissenschaftler*innen ihre Stimme im öffentlichen Diskurs erheben. Einerseits, um Verantwortung zu übernehmen, andererseits, um diese auch politisch einzufordern und verschiedene Handlungsspielräume und Strategien aufzuzeigen. Mit verschiedenen Impulsen laden die Economists for Future zur Debatte ein, damit nachhaltiges Wirtschaften nicht nur eine viel diskutierte Theorie auf dem Papier bleibt, sondern auch Einzug in die ökonomische Praxis findet.
Die zentrale Frage lautet daher, inwiefern ökonomische Ansätze angemessene Antworten auf die multiplen Krisen unserer Zeit liefern können. Fakt ist, dass die momentan vorherrschende Logik einer profit- und wachstumsorientierten Wirtschaft offensichtlich an ihre Grenze gestoßen ist. Trotz verschiedenster Bemühungen verschärfen sich globale Trends wie der Ressourcenverbrauch und die Klimakrise. Beide Phänomene sind dabei untrennbar mit sozialer Ungleichheit und der Privilegierung einer nicht-nachhaltigen Lebensweise verbunden. Diese Einsicht muss sich auch in den ökonomischen Antworten widerspiegeln. Denn in einer Welt, in der für uns so vieles möglich scheint, kreisen wir weiterhin zu oft um einseitige Lösungsansätze, welche überholte Strukturen nur „grün anstreichen”. Zentrale Herausforderungen werden so verkannt und wirksame Maßnahmen verfehlt. Im schlimmsten Fall werden gut gemeinte Maßnahmen beschlossen, die soziale Ungleichheit und die Klimakrise noch verschärfen. Das Potenzial im Economists for Future-Ansatz liegt daher darin, das Anliegen einer pluralen Ökonomik – die Anerkennung vielfältiger ökonomischer Perspektiven – mit dem Anliegen, eine zukunftsfähige Wirtschaft zu gestalten, zu verknüpfen.
Zukunftsfähigkeit meint hierbei nicht die Anmaßung von Wissen, Zukunft planen zu können. Gemeint ist vielmehr, Zukunft demokratisch zu gestalten. Und zwar so, dass mögliche Folgen und Auswirkungen des vergangenen und gegenwärtigen Handelns auf künftige Handlungsspielräume mitgedacht werden. Dazu müssen wir entsprechende Fähigkeiten ausbilden, die uns einen gelingenden Umgang mit der Komplexität dieser Welt ermöglichen. Die Geschwindigkeit existenzieller Krisen erfordert dabei zusätzlich einen anderen Umgang mit Unsicherheit, so genanntes agiles Handeln, sowie eine Sensibilität für Macht- und Herrschaftsfragen. Wir sollten uns daran erinnern, dass Wirtschaft keinem Naturgesetz unterliegt, sondern ein gestaltbarer sozialer Prozess ist.
Alte Ansätze sind zu schmal
In der jüngsten Vergangenheit haben führende Ökonom*innen diesbezüglich kein gutes Bild abgegeben: Prognosen, die vor einer Einführung des Mindestlohns warnten, stellten sich als falsch heraus. Das Potenzial von Innovationen, wie z. B. den Erneuerbaren Energien, wurde lange Zeit verkannt, während eine breite Debatte über den Abbau klimaschädlicher Subventionen bis heute ausblieb. Dies hat auch damit zu tun, dass die Natur und ihre Zerstörung in vielen ökonomischen Modellen nur durch eine Internalisierung, also durch ihre Einpreisung, abbildbar wird. Eine wirksame CO2-Bepreisung kann daher ein hilfreiches marktwirtschaftliches Instrument sein. Aber es braucht dann auch eine öffentliche Debatte, in der Problematiken und normative Setzungen diskutiert werden – z. B. das Kriterium der Kosteneffizienz oder auch psychologische Aspekte, die entstehen können, wenn Verfügungsrechte geschaffen werden.
Die ökologische Makroökonomik entwickelt zudem weitergehende Ansätze, in denen planetare Grenzen sowie Energie- und Materialflüsse einbezogen werden. Hier wird Wirtschaft als in die Natur eingebettet gedacht. Ausgangspunkt sind Fragen nach den ökologischen Lebensgrundlagen. Suffizienzpolitik wie auch der Ansatz einer Circular Economy sind beispielsweise Versuche, diese Erkenntnisse in die Praxis zu überführen.
Somit sind es vor allem Ökonom*innen mit einer engen Marktkonzeption, die notwendige Veränderungen ausbremsen und sich dabei häufig durch ein antagonistisches Verständnis von Markt und Staat auszeichnen. Hingegen zeigen Ökonom*innen wie Mariana Mazzucato, dass der Staat maßgeblich als Innovationstreiber wirken kann. In ihrem Buch Wie kommt der Wert in die Welt? widerspricht sie der These, dass nur der private Sektor Innovationen vorantreibe und der Staat träge sei und kein Innovationspotenzial besitze.
Deutlich wird auch, dass Preise an sich noch nichts über die Wertschöpfung eines Produkts oder einer Dienstleistung aussagen. Zum Ausdruck kommt dies in der Debatte um ein neues Wohlfahrtsmaß. Denn das wirkmächtige Bruttoinlandsprodukt ist ein rein monetärer Indikator, der lediglich eine Aggregation von Preisen abbildet. Auch hier mangelt es nicht an Vorschlägen für eine alternative Wohlfahrtsmessung. Bislang ist davon in der institutionalisierten Praxis aber wenig zu spüren. So soll das Beratungsgremium der Bundesregierung – der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – seine wirtschaftspolitischen Empfehlungen weiterhin am sogenannten „magischen Viereck“ aus Preisstabilität, Beschäftigung, Außenwirtschaft und Wirtschaftswachstum ausrichten. Die explizite Frage nach den Effekten auf soziale und ökologische Grundlagen fehlt.
Diese Schlaglichter markieren nur einige der bisher viel zu einseitigen Betrachtungen. Denn Wirtschaft ist immer mehr als nur Markt und Staat. So rückt beispielsweise die feministische Ökonomik die fundamentale Bedeutung der Versorgungsökonomien in den Vordergrund, und damit die Frage des Selbsterhalts. Diese ökonomische Sphäre bleibt oft unterbelichtet, auch weil ein Großteil dieser Arbeit abseits des Marktes und damit unbezahlt erfolgt.
Mit Erfolg in der Praxis
Bei aller Kritik ist die gute Nachricht, dass es an erfolgversprechenden Ansätzen nicht mangelt – und viele bereits in der Praxis erprobt werden: Sei es in Reallaboren wie dem Doughnut Economics Action Lab, mit der Gemeinwohl-Ökonomie, durch Social Entrepreneurship oder auch in Genossenschaften. Mit Methoden wie Social Presencing Theater und konvivalen Technologien, durch gemeinschaftsgetragenes Wirtschaften oder Initiativen wie Transition Towns entwickeln sich vielversprechende Ideen für die Praxis, die durchaus skalierbar sind. Um gesellschaftlich wirksam zu werden, sind aber nicht nur Starthilfen der Politik nötig, sondern auch akademische Diskurse und Institutionen, die jene Ideen ernst nehmen und fördern.
Vielleicht lässt es sich am besten mit einem Bild beschreiben: Wie unter einem nächtlichen Sternenhimmel erscheint uns eine Vielzahl verschiedener Ideen unterschiedlich hell. Die Einsicht zur Notwendigkeit und der Wunsch nach einem anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnis sind allgemein groß – und dennoch fern. Einige Sternbilder sind dennoch gut erkennbar: Ideen, die sich theoretisch gut miteinander verknüpfen ließen. Wenn also Mazzucato eine “Moonshot Mission to Changing Capitalism” fordert, dann gilt es diese Forderung zu erweitern: Wir brauchen ein umfassendes Raumfahrtprogramm für unsere Erde, das sämtliche Sphären unserer Wirtschaft miteinschließt.
David J. Petersen ist angehender Sozialökonom und engagiert sich bei Economists for Future für eine zukunftsfähige Wirtschaft und die Praxis einer Öffentlichen Wissenschaft.
Claudia Schupp promoviert in Entwicklungsökonomik und ist interessiert an sozio-ökonomischen Themen im Bereich der Bildung, Nachhaltigkeit und Ungleichheit.
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