Schuld und Sühne
Dauerplastik
Kunststoffe sind ein elementarer Bestandteil unseres Lebens und tragen in vielen Bereichen zur Reduktion von Umweltbelastungen bei. Gleichzeitig lassen sie eine sehr spezielle Zukunftsschuld entstehen: die Vermüllung unserer Meere. Eine aktuelle Studie zeigt konkrete Einsparpotenziale auf.
Von Henning Wilts
Kunststoffe sind aus unserem täglichen Leben kaum noch wegzudenken, es vergeht praktisch keine Sekunde, in denen wir nicht von Plastik in seinen unterschiedlichen Formen profitieren – von den allerersten Anfängen in Form von Bakelit-Telefongeräten und Nylonstrümpfen bis hin zum Mars-Rover, der ohne Hightech-Kunststoffteile niemals seinen Weg durch das All gefunden hätte. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die weltweite Nutzung fossiler Rohstoffe zur Herstellung von Kunststoff seit Jahren kontinuierlich zunimmt. Die globale Kunststoffproduktion ist zwischen 1950 und 2012 von 1,7 auf 288 Millionen Tonnen (Mt) angestiegen, wovon im Jahr 2012 allein in Europa 57 Mt hergestellt wurden, so die Studie PlasticsEurope 2013 der Association of Plastics Manufacturers. Dieser Trend wird aller Voraussicht nach anhalten: Gerade die kunststoffintensiven Sektoren wie der Verpackungsbereich, der Bau- oder der Automobilsektor weisen hohe Wachstumsraten auf und mit ihnen wird die Nachfrage nach Kunststoffen steigen.
Doch auch wenn die Herstellung und Verarbeitung von Kunststoffen – wie von allen Rohstoffen – mit Umweltbelastungen verbunden sind, so ersetzen Kunststoffe in vielen Bereichen durch ihre vielseitige Anwendbarkeit andere noch deutlich ressourcenintensivere Rohstoffe. Durch ihre Materialeigenschaften tragen sie in vielen Bereichen zu einer verminderten Umweltbelastung bei, zum Beispiel durch Leichtbau von Fahrzeugen oder Dämmmaterialien. Insofern wäre eine Welt ganz ohne Kunststoffe mit Sicherheit keine bessere.
Ein gigantischer Müllwirbel
Trotzdem trägt auch Plastik zu einer speziellen Form von Zukunftsschulden bei: Wenn kunststoffhaltige Produkte am Ende ihrer Nutzungsphase unweigerlich zu Abfällen werden, verursachen sie insbesondere durch die Vermüllung von Flüssen und Ozeanen erhebliche Probleme. Rund acht Millionen Tonnen Kunststoffabfälle gelangen jährlich vor allem über Flüsse in die Ozeane. Die Meeresschutzorganisation Oceana schätzt, dass weltweit jede Stunde rund 675 Tonnen Müll direkt ins Meer entsorgt werden, die Hälfte davon Kunststoffe. Laut einer Studie des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) treiben bis zu 18.000 Kunststoffteile in jedem Quadratkilometer der Weltozeane. Eine 2015 in Science veröffentlichte Studie Plastic waste inputs from land into the ocean zeigt, dass sich ohne verbesserte Abfallinfrastrukturen die Menge der Kunststoffeinträge in die Ozeane bis zum Jahr 2025 um den Faktor 10 erhöhen könnte.
Mit den Strömungen wandern die Kunststoffe über die Meere und sammeln sich nach Jahren in großen Strömungswirbeln an. Südöstlich von Hawaii hat sich in der im Uhrzeigersinn drehenden Meeresströmung des Pazifiks ein gigantischer Müllwirbel gebildet, in dessen Zentrum drei Millionen Tonnen Kunststoffabfall rotieren. Dieser wächst stetig und hat sich nach einer Studie des Scripps Instituts für Ozeanographie in San Diego von 2012 in den letzten 40 Jahren verhundertfacht.
40 bis 80 Prozent weniger sind möglich
Vor diesem Hintergrund hat das Wuppertal Institut im Auftrag des NABU eine Studie zu „Einsparpotenzialen beim Kunststoffeinsatz durch Industrie, Handel und Haushalte“ erstellt. Ihr Ziel war, den Status Quo des Einsatzes von Kunststoffen in Deutschland und Europa zu beschreiben und ein Referenzszenario für den Einsatz von Kunststoffen zu entwickeln. Damit sollten Optionen identifiziert werden, wie der Einsatz von Kunststoffen reduziert werden könnte und welche konkreten Instrumente und Handlungsansätze zur Realisierung beitragen. Und Optionen sind unbestritten vorhanden: Insgesamt wurden neun konkrete Ansätze zur Verringerung des Kunststoffeinsatzes untersucht, auf deren Basis zwei Szenarien („low hanging fruits“ und „harte Markteingriffe“) entwickelt wurden, in denen der Kunststoffeinsatz um 40 bzw. 80 Prozent reduziert werden konnte. Damit sind nicht notwendigerweise Umweltentlastungen verbunden, denn Substitutionsprozesse können immer auch zu einer reinen Verlagerung von Umweltbelastungen führen. Trotzdem versuchen die Beispiele dafür zu sensibilisieren, dass Kunststoffeinsatz und insbesondere der Anfall von Kunststoffabfällen keine unvermeidbare Notwendigkeit sind, sondern immer an konkrete Konsum- und Produktionsmuster gekoppelt sind.
Option 1: Substitution durch erneuerbare Rohstoffe
Option 2: Verringerung des Kunststoffeinsatzes durch Optimierung von Produktionsprozessen
Option 3: Einsatz von Kunststoff-Rezyklaten
Option 4: Kunststoffleichte Verpackungsoptionen
Option 5: Komplettverzicht auf Kunststoffverpackungen
Option 6: Verringerung des Einsatzes von Einweg-Plastiktüten
Option 7: ReUse Elektronik
Option 8: Kunstoffeinsparungen durch Dienstleistungen anstatt Produkte
Option 9: „Plastik fasten“
In vielen Bereichen bietet der effizientere Einsatz von Kunststoffen nicht nur ökologische Vorteile, sondern ganz konkrete Kosteneinsparpotenziale. So wurden beispielsweise im US-Bundesstaat Oregon im Rahmen eines Pilotprojekts der Umweltverwaltung in Kooperation mit sieben national und international tätigen Unternehmen Transportverpackungen optimiert: Obwohl bei den Unternehmen selbst aufgrund einiger Hemmnisse nicht alle möglichen Änderungen realisiert wurden und diese bereits vorher eine Vorreiterrolle in Umweltaspekten innehatten, betrugen die geschätzten finanziellen Einsparungen durch diese Maßnahmen in drei Unternehmen mehr als 994.000 Dollar im Jahr, evaluierte das Department of Environmental Quality 2014 über das Business Packaging Waste Prevention Project (2002 – 2005).
Geschlossene Kreisläufe sind besser
Aber werden diese finanziellen Anreize ausreichen, die drohende „Kunststoffschuld“ in Form vermüllter Ozeane und Flüsse zu verhindern? Auch hier liefert die Wuppertaler Studie eine klare Antwort: definitiv nicht. Das absehbare Wachstum der eingesetzten Kunststoffmengen ist deutlich größer als die realisierbaren Effizienzgewinne. Die Umsetzung der identifizierten Potenziale wird den Einsatz informatorischer, ökonomischer und regulatorischer Instrumente erfordern, da angesichts des Ausmaßes externalisierter Umweltkosten die vorhandenen Anreize in vielen Bereichen noch nicht ausreichen, um Investitionen in innovatives Produktdesign, effiziente Produktionstechnologien oder neue „kunststoffleichte“ Geschäftsmodelle zu rechtfertigen. Insofern ergibt sich ein klarer Bedarf an verbesserten Rahmenbedingungen, die die Produktion von Kunststoffen umweltfreundlicher gestalten, ihre ressourcenschonenden Nutzungsmöglichkeiten fördern, aber die drohende Zukunftsschuld verhindern. Klar ist dabei auch, dass es keine „deutsche“ Lösung sein kann: Angesichts der hochwertigen abfallwirtschaftlichen Infrastrukturen mit Sammelsystemen, Deponieabdichtungen etc. ist es nicht der Müll aus Deutschland, der im Meer landet – aber es ist der Müll, den wir anderswo durch unsere Konsumnachfrage entstehen lassen. Insofern ist es auch unsere Verantwortung, radikale Veränderungsprozesse anzustoßen, die ihre Wirkungen weit über Deutschland hinaus entfalten.
Optionen dazu bieten sich aktuell in der Diskussion des Circular Economy Pakets der Europäischen Kommission. Einerseits ermöglicht die Vielfalt der eingesetzten Kunststoffsorten und Zuschlagstoffe genau auf die jeweiligen Kundenbedürfnisse abgestimmte technische Lösungen. Diese Komplexität der Produkte ist jedoch ein massives Hemmnis für die Schließung von Stoffkreisläufen. Insofern müssen Lösungen gefunden werden, Kunststoffe nur in solchen Kombinationen einzusetzen, die sich auch ökonomisch sinnvoll recyceln lassen – die dann entstehende Nachfrage nach Kunststoffabfällen wird sie effektiver aus den Weltmeeren raushalten als jeder Versuch, Plastiktüten im Supermarkt zu verbieten. Unterstützt werden könnten solche Ansätze durch Vorgaben zum Rezyklatanteil von kunststoffhaltigen Produkten – wir müssen weg von den klassischen Abfallzielen hin zu verbindlichen Zielvorgaben, die zu tatsächlich geschlossenen Stoffkreisläufen durch bessere Produkte führen. Die kommenden Monate werden zeigen, ob es tatsächlich einen politischen Wille gibt, die Kreislaufwirtschaft zu einem Motor der Ressourceneffizienz weiterzuentwickeln.
Henning Wilts ist am Wuppertal Institut Projektleiter für Abfall und Ressourceneffizienz. In seinen Projekten zum Beispiel für die Europäische Kommission oder das Umweltbundesamt untersucht er, ob Abfall ein notwendiges Übel ist oder wie er vermieden werden kann. Unter anderem leitet er die Arbeitsgruppe Abfallvermeidung im European Topic Center Waste and Materials in a Green Economy. Die Studie Einsparpotenziale beim Kunststoffeinsatz durch Industrie, Handel und Haushalte in Deutschland ist beim Nabu unter www.nabu.de im Bereich Ressourcenschonung/ Kunststoffe & Bioplastik als PDF verfügbar.
Weitere Beiträge zum Thema Ressourcenschulden gibt es nicht nur online, sondern auch in unserem factory-Magazin Schuld & Sühne zum kostenlosen Download. Das ist wie immer schön illustriert und vor allem gut lesbar auf Tablet-Computern und Bildschirmen – außerdem enthält es sämtliche Beiträge und Fotos sowie zusätzliche Zahlen und Zitate.
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