Utopien

Von Möglichkeiten erzählen

Utopien sind eine Frage der Kommunikation und der Überzeugung. Die Große Transformation benötigt als konkrete Utopie eine eigene Erzählung, wenn sie verstanden und durchsetzungsfähig werden soll. Die ersten Transformations-, Solution- und konstruktiven Journalisten sind bereits auf dem Weg. Wie kommen Transformationswissenschaft und utopischer Wissenschaftsjournalismus zusammen?

Von Manfred Ronzheimer

 

Zukunftsbezogenes Denken und Handeln braucht Narrative und Informationen. Narrative sind die großen Erzählungen, die Gesellschaften und Epochen in unterschiedlichen Formen der Kommunikation durchziehen und einen jeweiligen Zeitgeist zum Ausdruck bringen; zu den wichtigsten Formaten zählen die Literatur und der Film. Informationen, wie sie der Journalismus tagesaktuell sammelt und verbreitet, sind wichtige Elemente zur Interpretation und konkreten Gestaltung der Realitäten. Gehandelt werden muss heute, auch wenn es die Zukunft betrifft. Die beiden Formate der Kommunikation sprechen die Nutzer – Leser und Zuschauer – in unterschiedlicher Weise an: Die Narrative ziehen in erster Linie gefühlsmäßig in den Bann und können so auch die Phantasieproduktion beim Leser verstärken. Emotion ist hier der Schlüsselbegriff. Journalismus stellt in seinem Kernbereich aktuelle Fakten bereit, die den Intellekt ansprechen und vom Bewusstsein verarbeitet werden. Natürlich gibt es für beide Kommunikationsbereiche Formate gegenseitiger Verschränkungen, wie die Fachliteratur, die rational-kognitiv aufgenommen wird, oder Medien, die Informationen zur Emotionalisierung verwenden, wie bei der Skandal-Berichterstattung, dem Boulevard. Die Hauptlinien sind gleichwohl: Narrative sprechen das Herz an, Journalismus den Kopf.

Im Zeitalter der Industrialisierung hat das Zukunftsdenken einen großen Aufschwung erfahren, der sich sowohl in narrativen Visionen etwa eines Jules Verne niederschlug, wie auch in der journalistischen Berichterstattung über die täglichen Fortschritte der Technik. Eine neue Welt war nicht nur vorstellbar, sondern auch gestaltbar. Die Erfolge der Wissenschaften und ihre ingenieurtechnische Anwendung waren in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Für den ersten organisierten Auftritt eines Fachjournalismus in diesem Bereich, die Gründung der „Technisch-Literarischen Gesellschaft“ (TELI) in Berlin 1929, war diese Klammer zwischen Narration und Journalismus sogar namensgebend. In jener Zeit der Eroberung der Lüfte, der Elektrifizierung der Haushalte und der neuen Automobilität erschöpfte sich der Wissenschaftsjournalismus in der tagesaktuellen Faktenbegleitung dieser großen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Für kritische Reflexion fühlte sich der damalige Wissenschafts- und Technikjournalismus noch nicht zuständig.

Betroffene zu Beteiligten machen

Diese Haltung begann sich zu ändern, als das Versprechen des technischen Fortschritts auf eine bessere Zukunft Risse bekam. Eine zentrale Rolle spielte hier die Atomphysik, die mit der Entdeckung der Kernspaltung und des darin schlummernden Energiepotentials die Öffnung von zwei Pandora-Büchsen ermöglichte: Atombomben und Atomreaktoren. So wie in der Literatur erstmals negative Bilder von der Zukunft der Menschheit gezeichnet wurden, wie in Huxleys Schöner neuer Welt oder Orwells 1984, so keimten auch im Journalismus Zweifel auf und bereiteten einem Wissenschaftsjournalimus mit skeptischer Ausrichtung den Boden. Hier ist vor allem der Wissenschaftsjournalist Robert Jungk zu nennen, der sich in seinen Beiträgen zu einem populären Kritiker der Atomenergie und deren Stützung durch Wissenschaft und Politik entwickelte („Der Atomstaat“). Zugleich engagierte sich Jungk in den 60er und 70er Jahren für die entstehende Zukunftsforschung und schlug mit seinem Instrument der Zukunftswerkstätten eine Brücke in die Gesellschaft. Betroffene zu Beteiligten machen war Jungks Devise. Diese Forderung nach Partizipation wird erst heute richtig verstanden und umgesetzt. Der von Jungk intendierte und in seinen Schaffensjahren auch realisierte „kritische Wissenschaftsjournalismus“ hat sich allerdings bisher nicht zum Mainstream entwickelt. Vielmehr dominiert im Wissenschaftsjournalismus eine affirmative Haltung, die durch Popularisierungsansätze aus der Wissenschaft selbst („Public Understanding of Science“) flankiert wird und sich unter Nutzung neuer medialer Möglichkeiten stärker einem „Sciencetainment“ öffnet.

Von der Transformation erzählen

Moderne Zeiten sind zwar immer Zeiten stetigen Wandels. Aber inzwischen ist es höchste Zeit für einen zielgerichteten Wandel mit massiver Intensität: eine Große Transformation, wie es der Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltveränderung der Bundesregierung (WBGU) in seinem bekannten Gutachten 2011 formuliert hat. Verbunden übrigens mit dem Vorschlag eines grundlegend neuen „Gesellschaftsvertrags“, eine Anregung, die seitdem leider nicht nennenswert aufgegriffen wurde.

Ausgehend von den ersten Signalen des Klimawandels sind für den Beirat tiefgreifende Veränderungen nötig, wenn der Planet und auf ihm die Menschheit in diesem Jahrhundert nicht ökologisch vollends scheitern soll. Ein zentrales Vorhaben ist die Dekarbonisierung der heutigen Wirtschaftsabläufe, der Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energien. Andere „große gesellschaftliche Herausforderungen“ (Grand Challenges) kommen hinzu: Welternährung, Meeresschutz, alternde Gesellschaft, Urbanisierung, Infektionskrankheiten, Gemeingüter, etc. Die Wissenschaft ist hier stark gefordert.

Aber nicht nur sie, auch der Journalismus, der über Berichterstattung öffentliches Bewusstsein mitformt. Leider ist die mediale Darstellung der Themen der Großen Transformation im heutigen Mediensystem nur randständig. Es braucht einen „Transformationsjournalismus“, der den großen Herausforderungen den ihnen gebührenden Stellenwert einräumt. Und Medien, die diese Inhalte transportieren, etwa in Form von „Transformationszeitungen“. Die mediale Darstellung ist Teil des Prozesses, der gegenwärtig durch die Digitalisierung das Medienssystems ebenfalls transformiert: auch hin zu neuen, partizipativen Medien, an denen der Nutzer im Unterschied zu früher aktiv mitwirken kann.

Journalismus, der verändern will

Im Prozess der „Zukunftsgewinnung“ sind beide Kommunikationsformate, das gesellschaftliche Narrativ und der Journalismus, für die neue Epoche, sogar das neue Erdzeitalter mit der Bezeichnung Anthropozän, noch unterentwickelt. Anthropozän bedeutet, dass die Menschheit in eine neue Epoche eintritt, in der sie die größte Kraft für die physischen Veränderungen auf dem Planeten ist. Dies wird derzeit mit den negativen Nebeneffekten konnotiert, wie dem Regenwaldverlust und dem Schwinden der Biodiversität oder dem Missbrauch des Gemeinguts Atmosphäre als Müllabladeplatz für Kohlendioxid. Diese realen Gefahren gehen einher mit negativen Zukunftsentwürfen (Dystopien), in deren Schilderung sich der Zustand von Natur und Gesellschaft fortlaufend verschlechtert. Eine Aktualisierung erfährt diese Richtung durch die stärkere Wahrnehmung der Folgen von Digitalisierung und Roboterisierung.

Was fehlt, ist das Narrativ von der positiven Gestaltbarkeit des Anthropozäns. Ausgehend von der neuen Verantwortung, die die Menschheit in ihrer heutigen Wirkungsmacht für den Planeten hat, müssen sowohl die politischen und gesellschaftlichen Governance-Struktur wie auch das technische Instrumentarium neu in den Blick genommen werden, um es in den Zustand eines ökologischen (und auch sozialen) Gleichgewichts zu überführen. Eine solche „große Erzählung“ der „Großen Transformation“ steht noch aus. Kein grüner Harry Potter setzt seinen Zauberstab ein, um dem Anthropozän den Charakter der Katastrophe zu nehmen und in einen besseren Ort zu verwandeln; kein ökologischer Karl May machte sich auf die Reise durch Phantasiewelten, in denen die Kriegführung gegen die Natur beendet und der neue Gesellschaftsvertrag in Kraft getreten ist. Die literarische Zukunftsverweigerung produziert eine Leerstelle im gesellschaftlichen Bewusstsein und letztlich auch im realpolitischen Handlungsraum.

So muss der tagesaktuelle Journalismus einspringen und Informationen liefern, die für die Große Transformation benötigt werden. Auf dieser Seite ist ein doppelter Veränderungsprozess in Gang gekommen, der freilich in seinem Volumen noch nicht als die große Medienwende aufgefasst werden darf. Zum einen gibt es sowohl von Seiten der praktizierenden Journalisten als auch von Teilen der Leserschaft den verstärkten Wunsch, die Schlagseitigkeit der Priorisierung negativer Nachrichten (gemäß der Presseregel „Only bad news are good news“) zu beenden und mehr auf die Verbreitung positiver Meldungen, „Geschichten des Gelingens“, zu setzen. Konstruktiver Journalismus und lösungsorientierter Journalismus (solution oriented journalism) sind hier die Schlagworte. Es sind vor allem Pioniere des journalistischen Wandels, die eine solche Kursänderung weniger in den etablierten Medien (Ausnahme: The Guardian), sondern im Aufbau neuer Medien und Kommunikationsformate vorantreiben. Dazu zählen unter anderem das Recherchekollektiv Correctiv, die Internetplattform Krautreporter, das factory-Magazin, das Nachhaltigkeitsportal N21 oder der Story-Dienst Perspective Daily, in dem journalistische Amateure aus der Wissenschaft für 12.000 Abonennten täglich eine Geschichte mit positiver Veränderungsrichtung produzieren wollen. Unten, auf der Graswurzelebene, beginnt ein neuer Journalismus zu keimen und zu sprießen. Auch im Wissenschaftsjournalismus entwickeln sich neue Formate, wie das Science Media Center in Köln, das mit einem Service-Angebot die Qualität in diesem Journalismussegement erhöhen will. Finanziert wird es, wie derzeit viele Medieninnovationen, aus Finanzmitteln gemeinnütziger Stiftungen, in diesem Fall der Klaus-Tschira-Stiftung.

Große Chancen für Gestaltung

Noch nicht angekommen sind im Journalismus neue Formate der Leser-Partizipation. Diese Richtung, die vom Ansatz des „Transformationsjournalismus“ verfolgt wird, will die Nutzer neben den Journalisten als Mit-Produzenten gewinnen. Nicht als solitären Bürgerjournalismus, der in der Regel nur als ein Als-Ob-Journalismus minderer Güte reüssiert, sondern in Kombination mit der Kompetenz der Medienprofis. Dieser Ansatz will auch die Citizen Science-Bewegung der Bürgerforscher, die derzeit den Wissenschaftsbetrieb in Deutschland erreicht, auf den Journalismus ausdehnen: Citizen Journalism. Wenn in solchen von Bürgern mitproduzierten Medien die Themen der Großen Transformation eine herausgehobene Rolle spielen, dann hat der Transformationsjournalismus einen wichtigen Schritt nach vorne gemacht. Was sich jetzt noch wie Zukunftsmusik anhört, kann mit Beharrlichkeit und vieler Hände Mitwirkung durchaus bald mediale Realität werden. Im Mediensystem stehen die Zeichen jedenfalls voll auf „Wandel“.

Manfred Ronzheimer ist Wissenschaftsjournalist in Berlin. In factory schrieb er zuletzt über „Bildung als beste Investition“ (Divestment) und den „Handel im Wandel“ (Handeln).

Mehr Beiträge zum Themenspektrum Utopien, ihrer Entwicklung und Umsetzung, ihren Beispielen konkreter Realisierung, ihrer Notwendigkeit für Gesellschaften und Wissenschaften, ihren Erzählformen und ihrer Ausgestaltung finden Sie im factory-Magazin Utopien. Das PDF-Magazin lässt sich kostenlos laden. Es ist so gestaltet, dass es besonders gut Tablet-Computern und Bildschirmen zu lesen ist – natürlich lässt es sich auch ausdrucken. Es enthält sämtliche Beiträge, Fotos und Illustrationen sowie zusätzliche Zahlen, Zitate und eine Wordcloud – während online zunächst nur wenige Beiträge verfügbar sind.

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