Sisyphos
Beschleunigung der Naturproduktivität. Eine Skizze über das Anthropozän
Bei aller einhegenden Politik, die global ohnehin nicht wirklich funktioniert, und einer davon unabhängigen Wettbewerbskultur, müssen wir uns auf das neue Zeitalter der Verschiebung von naturbedingten Grenzen einstellen.
Ein Standpunkt von Birger P. Priddat
Wir haben beim aktuellen Zustand der Ökonomie – wettbewerbliche Markt- und Machtdynamik – noch keinen kulturellen Modus der Regelung von Naturproblemen erreicht. Dass wir die Probleme angehen müssen, bleibt unbenommen. Es wird nicht reichen, auf ein neues ‚Bewusstsein’ zu setzen, was bedeuten würde, eine neue Art von Menschen ‚herzustellen’ (bilden), die kooperativ wäre, also in Kategorien der Produktion von global commons denkt. Eine ethische Wendung wird zu schwach bleiben, um das Problem anzugehen.
Denn wir sind wirtschaftskulturell (und darin politisch) noch nicht in einem Modus, die globalen Naturprobleme effektiv anzugehen. Wir behandeln sie noch diskret bzw. separat, unter Wahrung rivaler bzw. wettbewerblicher Markt- wie Machtinteressen. Es nützt auch nicht, sie politisch anzugehen, wenn der Wirtschaftsmodus rival bleibt (wie der Politikmodus selber machtrival ist).
Der Name Anthropozän für die nächste Phase der Erdgeschichte ist angemessen, weil er die humane Verantwortung für den Zustand der Natur betont – als Verantwortung für die Erhaltung der Produktion für Menschen. Verantwortung heißt hier: um die Ökonomie (als ‚Produktion für Menschen’) zu erhalten, sind wir darauf angewiesen, common goods zu produzieren, die wiederum die Bedingung für globalen Naturumgang sind. Alle Modi unterhalb dieser Ebene bleiben lokale und darin disparate bis rivale Naturumgangsformen. Aber wie? Reicht eindämmende Politik (die wir, als globale, nicht haben)?
Der Name ‚Anthropozän’ weist auf drei Aspekte:
- darauf, dass wir im Rahmen der ‚Produktion für Menschen’ die Erdoberfläche kultiviert, also unwiderruflich verwandelt haben;
- verweist der Name darauf, dass wir deshalb in Verantwortung für die Erde stehen;
- wäre zu ergänzen, ist die Verantwortung aber kein ausschließlich human-ethischer Auftrag, sondern immer auch ein ökonomischer, nämlich die Erhaltung der Bedingungen für die ‚Produktion von Menschen’ aufrecht zu erhalten.
Das ist kein einfaches Projekt, da es erfordert, eine Balance zwischen Menschen- und Naturanforderungen herzustellen: eine Art ‚Produktion der Natur durch Menschen’ – in intelligenter Kooperation (soweit wir das können).
Die Kooperation, die wir für die Herstellung der global commons brauchen, ist keine nur unter Menschen, sondern auch eine mit der Natur.
Es geht nicht um reine Naturschutzüberlegungen (die allemal nur Überlegungen auf dem erreichten Level der Naturinterventionen wären: welche Natur wird geschützt? Die jeweils phänomenal letzte?), sondern um die ‚Produktion der Erhaltung der Mensch- und Naturbedingungen in Interferenz’. Dabei werden neue Formen der Kooperation menschlicher mit der Naturproduktion entstehen, indem wir solche Naturproduktionen anregen, gar lenken, die unsere Produktionsbedingungen erhalten. Auf dem Level der Naturintervention, die wir bisher erlangt haben, wäre es unrealistisch, auf irgendeine ‚reine Natur’ zurückzugreifen. Unsere Infektion ist bereits nachhaltig; nur auf diesem Level können wir beginnen, die Natur als ein Projekt anzusehen, das wir künftig beeinflussen unter Kenntnis der Reproduktionsbedingungen natürlicher Produktionen, um unsere Reproduktionsbedingungen zu sichern. Es geht um die Balance zweier Reproduktionen.
Im Anthropozän werden wir das Wachstum der Wirtschaft forcieren müssen, denn die neuen Formen der Kooperation mit der Natur sind kapital- und materialintensiv (geotechnische, CO2-senkende, infrastrukturelle Prozesse etc.). Neue energieerzeugende Prozesse sind aufwendige Evokationen von menschlich eingeleiteten Naturprozessen (z. B. Fusion etc.). Selbst großflächige Sonnenkollektorprozesse sind weiter erdoberflächenverwandelnd. Auch – notwendige – Recycling-Prozesse sind kapitalintensiv. Eine neue, dies alles in Frage stellende Form der Energiegewinnung, ist noch nicht gefunden.
Die Idee der Schonung der Natur unterschätzt die Kooperationsnotwendigkeiten mit der Natur, die wir einleiten müssen, um unsere Produktions- und damit Lebensbasis nur zu erhalten. Die Phase der Ausbeutung natürlicher Ressourcen wird in eine Phase der gelenkten Naturproduktionen übergehen, die die Regenerationsfähigkeit natürlicher Produktionen ermöglicht. Die Rücksichtslosigkeit der Ausbeutung transformiert sich in eine forcierte Gestaltung von Naturproduktionen ad hominem. Wir entnehmen der Natur dann nicht nur etwas, sondern fordern sie auf, uns gezielter als bisher zu geben, indem wir ihre Produktionsprozesse so fokussieren, dass sie regenerativ für uns leistungsfähig werden.
Im Anthropozän werden wir die Natur mehr fordern als bisher: aber in Kenntnis ihrer Leistungsfähigkeit, nicht in Abschöpfung ihrer evolutiven Produkte. Das heißt aber auch, dass wir ihre evolutiven Prozesse neu beschleunigen (genetisch, chemisch, physikalisch, soweit wir das können). Wir werden nicht umhin kommen, die Naturproduktionen mit von uns inszenierten bzw. angeregten Naturproduktionen zu überholen.
In einem gewissen – maßvollen – Sinne werden wir anmaßend werden. Das klingt transhuman, ist aber eine conditio sine qua non des Anthropozän: Nur wenn es uns gelingt, die Natur zu Prozessen zu evozieren, die sie ‚selber nicht vorgesehen hat’, können wir aufhören, sie auszubeuten, also nur das von ihr zu entnehmen (wie bisher), das sie über Jahrmillionen produziert hat. Indem wir sie evozieren, neue Prozesse zu leisten, die wir forschend erkunden, können wir die Natur rekonstellieren als Grundlage unseres Weiterlebens. Wir setzen damit letztlich nur fort, was wir kulturell/ökonomisch schon längst immer getan haben, nun aber in einem neuen, forcierten Sinne: der Natur nichts bloß zu entnehmen, sondern sie zu gestalten, ad hominem.
Wenn die Natur eine Produktivität hat, die wir nur evolutiv-geschichtlich wahrnehmen, deren gegenwärtige wie zukünftige Potenziale wir aber entdecken können, sind wir – aus humanen Gründen der Selbsterhaltung – darauf angewiesen, ‚die Natur zu beschleunigen’ bzw. sie zu evozieren, das herzustellen, was beide erhält. ‚Nachhaltigkeit’ ist möglicherweise eine irrende Vokabel für diese Prozesse, wenn sie meint, damit die Natur so zu erhalten, wie sie gerade erscheint (in ihrem modus artificalis bisheriger kultureller Beeinflusstheit). Es geht um die Evokation des Wachstums der Natur – um nachhaltig evozierte Evolution.
Das Anthropozän wird sich als Zeitalter forcierter Evolution der Natur erweisen (soweit wir das können werden und soweit wir der Komplexität von Naturprozessen eingedenk sind). Es ist eine riskante Position, aber wir haben keine andere angesichts der Endlichkeit der bloß ressourcialen Betrachtung der Erde. Es geht fortan nicht mehr darum, das Ende der Ressourcen zu erwarten (und zu beschwören), sondern sie – über die Evokation neuer Naturprozesse – wieder auszuweiten, also das Wachstum der Grenzen einzuleiten.
So schwierig es ist, nachdem wir uns gerade daran gewöhnen, ökologische Schutzempfindungen zu entwickeln, das Anthropozän als Zeitalter hochwertiger gesteigerter Produktivität zu denken, so notwendig wird die sciento-technische Intelligenz zu entwickeln sein. Aber womöglich ist der gelinde Schauer, den diese Idee hervorruft, nur der Schauer einer Generation romantischer Naturbewahrer – unserer Generation. Unsere Jugend, neotechnisch IT-infiziert, wird das viel pragmatischer angehen.
Das Anthropozän wird das Zeitalter der pragmatischen Steigerung von artifiziellen Naturproduktionen.
Prof. Dr. Birger P. Priddat ist Ökonom und Philosoph, er lehrt Politische Ökonomie an der Universität Witten/Herdecke und an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Er ist Gastprofessor der Universität Basel für das Thema Wirtschaft und Religion. Seine Forschungsschwerpunkte übergreifen die Geisteswissenschaften und betreffen Kunst, Kultur und Ökonomie im weitesten Sinne. Im factory-Magazin Selbermachen schrieb er Wirklich Selbermachen? Über Unfreiheit und Kreativität.
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