Freiheit

Freie Fahrt für freie Bürger

Laut Umfragen würden viele Menschen in Deutschland vom Auto auf umweltfreundlichere Verkehrsmittel wechseln, wenn die Bedingungen stimmten. Weil die Infrastruktur für den motorisierten Individualverkehr gebaut ist, ist der Zwang zum Stau fast obsessiv. Die gegenwärtigen Mobilitätsbedingungen und Sachzwänge lassen den Verkehrsteilnehmern wenig Freiheiten.

Von Heike Holdinghausen

Seinen erfolgreichsten Werbespruch hört der ADAC inzwischen nur noch äußerst ungern. Weil laut Befragungen etwa die Hälfte der Mitglieder für ein Tempolimit sind, hält sich der Automobilclub neuerdings mit Empfehlungen an die Politik zurück und fordert mehr Forschung zu der Sache. „Freie Fahrt für freie Bürger“: Wer die Pressestelle nach dem Claim fragt, erntet schon länger Seufzen und Stöhnen und den Hinweis, der entstamme doch nun wirklich einer anderen Zeit. Es war die Zeit der Ölkrise Anfang der 70er Jahre, und tatsächlich schaffte es der ADAC mit diesem Slogan, das Tempolimit des sozialdemokratischen Verkehrsminister Lauritz Lauritzen zu kippen. 100 auf Autobahnen, 80 auf Landstraßen – das war mit dem ADAC und seinen Millionen von Mitgliedern im Rücken nicht zu machen und war nach dieser Kampagne auch nie wieder machbar. 1973 hatte der ADAC laut der Wochenzeitung DIE ZEIT seinen (An-)Spruch noch so begründet: „Das eigene Auto gibt dem Menschen Beweglichkeit, Unabhängigkeit und Freiheit. Es ist daher wesentlicher Bestandteil einer jedermann zustehenden besseren Lebensqualität.“

Lebensqualität und Freiheit, das klingt gut. Doch in der Kampagne des ADAC mutierte die Freiheit zum Kampfbegriff für eine Industriebranche. Auch wenn „vordergründig das Tempolimit auf der Autobahn adressiert wurde, ging es um weit mehr“, sagt Ragnhild Sørensen, Sprecherin des Netzwerks Changing Cities, das sich bundesweit in die kommunale Verkehrspolitik einmischt, „um den Bau der autogerechten Stadt und das Erstellen eines lückenlosen Straßennetzes für den motorisierten Individualverkehr, um Subventionen in Milliardenhöhen und Internalisierung von Kosten der Auto-Mobilität“.

Der Kampf um den Markenkern

Ihre Herkunft aus dem „Autoland der Ingenieure“ ist Teil der weltweit sehr erfolgreichen Markenphilosophie der deutschen Hersteller. Insgesamt bietet die Automobilbranche in Deutschland rund 820.000 Menschen in der Regel gut bezahlte Arbeitsplätze. 2017 erwirtschaftete sie einen Umsatz von rund 310 Milliarden Euro, den Löwenanteil davon im Ausland: Während Geschäfte im Inland 97 Milliarden Euro lieferten, betrug der Exportumsatz laut dem Verband der Automobilindustrie (VDA) 234 Milliarden Euro. Trotz aller Skandale und obwohl die Hersteller den Trend zur Elektromobilität lange verkannt haben, verkaufen sich deutsche Autos global hervorragend – und zwar vor allem die der Oberklasse. 2017 gehörten 59 Prozent aller im Inland gefertigten Modelle der Premiumklasse an, ein neuer Höchstwert. Der in die Kritik geratene VDA geht davon aus, dass etwa die Hälfte der Auto-Arbeitsplätze von diesen Modellen abhängt: von teuren, schweren und schnellen Wagen, die dafür berühmt sind, auch bei hoher Geschwindigkeit sicher und komfortabel zu sein. Schnelligkeit, Sicherheit, Komfort, eben jener angepriesene Vorsprung durch Technik, gehören zum Markenkern der deutschen Hersteller. Diesen Markenkern greift an, wer auf deutschen Autobahnen ein Ende der Freiheit zu rasen fordert.

Denn den Befürwortern eines Tempolimits – zum Beispiel von Greenpeace oder vom Sachverständigenrat für Umweltfragen – geht es nicht nur darum, dass langsamer Fahren umwelt- und klimafreundlicher ist. Sondern dass insgesamt langsamere, leistungsärmere und damit leichtere Autos gebaut werden – auch in einem künftigen Zeitalter der E-Mobilität. Experten wie der E.Go-Erfinder Günther Schuh, Professor für Produktionssystematik an der RWTH Aachen, weisen immer wieder darauf hin, dass es nicht darum gehen dürfe, künftig schwere, schnelle SUVs mit Batterie zu bauen. Sondern leichte, abgespeckte Fahrzeuge. Ein solches Abrüstungsprogramm würde auch das Autobahnnetz verändern. Im Durchschnitt zehn Millionen Euro kostet ein Autobahnkilometer, breite Pisten durchschneiden – für Tiere oder langsamere Verkehrsteilnehmer kaum passierbar – die Landschaft. Auch dies, weil Autobahnen auf unbegrenzt hohe Geschwindigkeiten ausgelegt sein müssen. Deutschland ist inzwischen das einzige Land der Welt, das die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen nicht begrenzt. Dafür gibt es sogar einen florierenden Rasertourismus aus aller Welt; Autofahrer lassen für den Tempourlaub sogar ihre eigenen Fahrzeuge einfliegen.

Der Sound des Sachzwangs

Funktionieren würde die 70er-Jahre-Kampagne heute noch, sagt Thorsten Koska vom Wuppertal Institut, auch wenn der ADAC – zum Ärger von Verkehrsminister Andreas Scheuer – inzwischen eine neutrale Position zum Tempolimit einnimmt. Als das Beratergremium des Verkehrsministeriums „Regierungskommission Mobilität“, um die Treibhausgase im Verkehrssektor zu senken, neben weiteren Maßnahmen auch ein Tempolimit vorschlug, „sind die Sicherungen durchgebrannt“, so Koska. Erst Mitte Februar 2020 scheiterte ein generelles Tempolimit auf Autobahnen im Bundesrat. Noch immer bedeute Mobilität mittels eines eigenen Autos Unabhängigkeit, eben Freiheit.

Die Ursache dafür sieht er paradoxerweise in Sachzwängen. „Der Alltag wird auch durch Zwänge strukturiert“, so Koska. Zeitmangel, nicht vorhandener oder unzureichender öffentlicher Verkehr oder Sicherheitsbedenken, etwa gegenüber dem Fahrradfahren, ließen die Menschen zum Zündschlüssel greifen. Um die Sachzwänge anzugehen, müsse man zwischen Mobilität und Verkehr unterscheiden, sagt Koska. „Mobilität“ bedeute, ein Bedürfnis befriedigen zu können, etwa, am Abeitsplatz zu erscheinen, die Kinder zur Schule zu bringen oder einen Einkauf erledigen zu können. „Verkehr“ hingegen sei die Strecke, die zurückgelegt werde, um mobil zu sein. Das heißt: Ist der Weg zum Einkauf kurz und kann zu Fuß zurückgelegt werden, ist der Kunde mobil, verursacht aber keinen (Auto)verkehr. Die Aufgabe einer nachhaltigen Städteplanung und Verkehrspolitik sei es, den Menschen Mobilität zu ermöglichen, ohne sie dazu zu zwingen, Autoverkehr zu erzeugen. Mit anderen Worten: Heute bedeutet „Freie Fahrt für Freie Bürger“, kein Auto besitzen zu müssen, um mobil sein zu können.

„Wir sehen ja heute, dass damals vom ADAC nicht alle Bürger*innen gemeint waren“, sagt Sørensen, „nämlich nicht diejenigen, die eben nicht mit dem Auto unterwegs sind“. Sie würden sich jetzt wehren und eine Mobilität nach menschlichem Maß fordern, um die Stadt von den Autos zurückzuerobern. Einen ganz anderen Weg schlägt Heiner Sothmann, Sprecher der Deutschen Verkehrswacht, vor. Um sich frei und selbstbestimmt durch die Stadt bewegen zu können, müssten vor allem Kinder früh lernen, sich im Verkehr zu bewegen, sagt Sothmann. Ab einem Alter von sechs Jahren könnten sie ihren Schulweg zu Fuß meistern, ab zehn Jahren mit dem Fahrrad. Weil 95 Prozent der Unfälle durch falsches Verhalten der Verkehrsteilnehmer verursacht würden, sei vor allem frühe und konsequente Verkehrserziehung wichtig, so Sothmann. Kinder müssten in jungen Jahren lernen, Laufrad oder Fahrrad zu fahren. Laut Kinderschutzbund hat der Radius, in dem Kinder sich um ihre Wohnung herum frei bewegen können, in den vergangenen 30 Jahren deutlich abgenommen. Und zwar nicht wegen zunehmender Unfälle, sondern wegen des erhöhten Sicherheitsbedürfnisses der Eltern, heißt es aus dem Kinderschutzbund. Allerdings, sagt auch Sothmann von der Verkehrswacht, müsste natürlich auch die Stadt so gestaltet sein, dass Kinder Platz zum Radfahren und Toben hätten, Schulwege müssten so sicher sein, dass Kinder sie allein bewältigen könnten.

An der Stelle trifft er sich wieder mit Sørensen von Changing Cities. Wöchentlich würden Initiativen gegründet, um die Verkehrswende lokal voranzutreiben, berichtet sie. Auf Ebene der Kommunen passiere unglaublich viel. Allerdings seien die kommunalen Handlungsspielräume begrenzt. Eine Regelgeschwindigkeit von Tempo 30 in den Städten könne zum Beispiel nur der Bund über die Straßenverkehrsordnung erlassen; auch die Pendlerpauschale, das Anwohnerparken oder die Zulassung von Fahrzeugen seien bundesgesetzlich geregelt. Ausnahmen gibt es aber: Die Stadt Köln lässt seit kurzem nicht mehr als fahrrad- und anwohnerfreundliche 30 km/h auf dem Innenstadtring zu, wo laut Gesetz Tempo 50 Vorrang haben muss.

„Hier müsste die Bundesregierung sich bewegen und den verkehrspolitischen Rahmen anders setzen“, sagt Koska vom Wuppertal Institut, „und so die Freiheit anderer mit in den Fokus nehmen, etwa die der Kinder, Senioren oder auch eine Freiheit von Lärm- und Abgasbelastung“. Schließlich habe es in Städten wie Amsterdam, Wien oder Kopenhagen, die heute Vorbildcharakter besäßen, vor 40 Jahren genauso fanatische Autofahrer gegeben, wie heute angeblich nur noch in Deutschland. „Es hat 40 Jahre gedauert, aber heute ist dort die Vormachtstellung der Autos gebrochen“, so Koska. Dazu sei notwendig, den öffentlichen Verkehr auszubauen, ihn pünktlicher und bequemer zu machen und in einem dichteren Takt fahren zu lassen. „Bisher haben wir dem Autoverkehr hinterhergebaut und so den individuellen Verkehr immer attraktiver gemacht“, sagt Koska, „es wird Zeit, diesen Prozess wieder umzudrehen“. Zum Beispiel durch eine „grüne Welle“ für Fußgänger – nicht sie müssen an der Ampel warten, sondern die Autos, und Busse und Radfahrer müssten Vorrang gegenüber Pkw und Lkw bekommen.

Freie Fahrt unter besseren Bedingungen

Für den Radfahrer-Verband Changing Cities führen autofreie Zonen in den Stadtzentren der Weg zu mehr Freiheit, dazu erheblich teurere Parkplätze sowie Rad- und Radschnellwege – nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land. „Die meisten Ortschaften liegen nur wenige Kilometer auseinander und die Strecken zwischen zwei bis sechs Kilometern sind für die allermeisten Menschen mit dem Rad zu bewältigen“, sagt Sørensen.

Verkehrssoziologen wie Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin setzen vor allem auf die Möglichkeiten der Digitalisierung. Die Aussicht, unproblematisch mittels einer App öffentlichen Verkehr, autonom fahrende, elektrische Fahrzeuge und Fahrräder oder E-Scooter zu verbinden, eröffne ganz neue Chancen der Mobilität, schreibt er zusammen mit anderen Autoren in seinem Buch „Erloschene Liebe“. Das an das private Auto geknüpfte Freiheitsversprechen, heißt es dort, konnte lange glaubhaft vermittelt werden, inzwischen habe es an Überzeugungskraft eingebüßt. Und selbst der ADAC illustriert auf seiner Website den Text zum „Bündnis für Moderne Mobilität“ des Verkehrsministeriums mit einem Foto, das Busse und Fahrräder zeigt – und ganz verschwommen, nur noch im Hintergrund, ein Auto.

Heike Holdinghausen ist Journalistin bei der Tageszeitung taz in Berlin und schreibt dort über Wirtschafts- und Umweltthemen. In der factory 2-2018 Mobilität erschien ihr Beitrag "Make Autoindustrie great again“ über den mangelnden Innovationsdruck für mehr Ressourcenschutz in der deutschen Autoindustrie.

Alle Beiträge zum Thema lesen Sie im gleichnamigen factory-Magazin Freiheit. Das Magazin im praktischen DIN A 5 Querformat lässt sich kostenlos laden und ist angenehm lesbar auf Bildschirmen und Tablet-Computern. Wie immer ist es dazu vielfältig illustriert und enthält sämtliche Artikel, dazu entsprechende Zahlen und Zitate. Online im Themenbereich sind ebenfalls einige Beiträge verfügbar – dort lassen sie sich auch kommentieren und bewerten.

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