Digitalisierung

Uns geht die Arbeit aus – warum habe ich zu viel davon?

Digitalisierung, Bots und das Internet of Things (IoT) – die Vernetzung sämtlicher Dinge – treiben die Automatisierung und das Ersetzen menschlicher Arbeitskraft wie nie zuvor voran. Andererseits leiden fast alle Arbeitenden unter Arbeitsverdichtung und -überlastung. Das neue Zeitalter erzwingt eine gesellschaftliche Richtungsentscheidung.

Von Andres Friedrichsmeier

factory-Leser kennen vermutlich beides: Die These vom Ende der Arbeit und bei sich selbst völlige Überarbeitung, zu wenig Zeit für das Lesen guter Texte und andere schöne Dinge des Lebens. Gestresst fragen wir uns, wann die Arbeit denn endlich mal anfängt auszugehen. Denn die These vom Ende der Arbeit ist zwar hoch plausibel, hat aber einen langen Bart, den sie sich aktuell mit Verweis auf die Digitalisierung bloß noch einmal Hipster-mäßig neu frisiert. Ihre Voraussagen vom Ausgehen der Arbeit haben sich schlicht nicht erfüllt, subjektiv erleben hunderttausende Freiberufler, Führungskräfte, Wissenschaftler, sogar Lehrer und Verwaltungsbeamte das Umgekehrte: Arbeit nimmt immer mehr zu, sie verdichtet, beschleunigt sich. Handwerker, Industriearbeiter, Putzfrauen und Versandboten können das bestätigen.

Dieser Widerspruch zwischen Theorie und Erleben lässt sich auf dreierlei Art interpretieren. Erste Option ist das Verwerfen der Theorie und stattdessen ein „Weiter-so“ in der Arbeits- und Sozialpolitik. Die zweite Variante ist die der klassischen Endzeitprophetie: Wenn schon die Industrialisierung 2.0 und 3.0 kein Ende der Arbeit brachten, dann sicherlich die Industrie 4.0 und 5.0. Interessanter ist die dritte Version, in dem man den Widerspruch der ersten beiden als Aufforderung zum Handeln liest: Wenn die meisten von uns verdichtet arbeiten, obwohl die Arbeit eigentlich weniger werden müsste, machen wir etwas falsch. Ziehen wir aktiv keine Schlüsse aus der These vom Ende der Arbeit, ziehen wir die falschen. Erwarten wir ein Ende der Arbeit, sollten wir es gestalten, so diese dritte Lesart. Was für sie spricht, ergibt sich am einfachsten, wenn man die Argumente der anderen beiden Interpretationen gegeneinander stellt.

"Erwarten wir ein Ende der Arbeit, sollten wir es gestalten.“

Gerade bei Denkern, die sich für menschliche Kreativität interessieren, hatte die Idee der durch Technisierung schneller wegfallenden als durch Technik neu entstehenden Arbeitsplätze schon immer Popularität. 1995 war Jeremy Rifkin mit dem Buch End of Work keineswegs Erfinder der gleichnamigen These. Sie findet sich schon bei frühsozialistischen Utopisten oder später, etwa bei Jean Fourastié, dem Mitentwickler der Drei-Sektoren-Hypothese, nach der eine Volkswirtschaft in Rohstoffgewinnung, -verarbeitung und Dienstleistung zu unterteilen ist. Oder bei Peter Drucker, dem Pionier der modernen Managementlehre.

Auch die unmittelbare Gegenthese, nach der nicht ein Weniger, sondern umgekehrt eine Beschleunigung von Arbeit Signum unserer Zeit ist, hat kreative Fürsprecher, wie den Jenaer Soziologen Hartmut Rosa oder zwei Jahrzehnte früher die Querphilosophierer Gilles Deleuze und Felix Guattari. In all diese Argumentationsrichtungen lässt sich die Digitalisierung, speziell das IoT, hervorragend einbauen – ein erster Hinweis darauf, dass sich hier These und Gegenthese nicht unbedingt widersprechen.

Der Beschleunigungsaspekt liegt auf der Hand, da das Beschleunigungsziel regelmäßig Grund für Investitionen in die Vernetzung ist, etwa bei Logistikketten. Die entgegengesetzte These von der Digitalisierung als Arbeitsplatzvernichter hat ebenfalls eine Reihe stechender Argumente. Rasante Internetvideos, etwa von Kurzgesagt oder CGP Grey, vermitteln den passenden Eindruck.

Ihr Ausgangspunkt ist nicht Science Fiction, sondern dass gesellschaftlicher Wandel durch kostengünstig breit einsetzbare Technik entsteht – historisch wie zukünftig. Dazu zählen heute schon selbstfahrende Autos, automatisch kassierende Supermarktkassen, vernetzte Logistik von der Produktion bis zum Kunden und im Bereich der höher qualifizierten Jobs die selbstlernenden Algorithmen (Bots) und Big Data. In der Fertigung oder auch in der Pflege und Versorgung sind es wiederum die selbstlernenden Roboter. Ein Beispiel ist „Baxter“, dessen Herstellung und Programmierung einfacher als die jedes Auto-schweißenden Fertigungsroboters ist, weil er sich die Handlungen des Menschen abschaut und selbst lernt.

"Gesellschaftlicher Wandel entsteht durch kostengünstig breit einsetzbare Technik."

Hochgerechnet könnte die Hälfte der heutigen Jobs betroffen sein, einer Studie von 2013 zufolge beispielsweise 47 Prozent von 702 untersuchten Berufen in den USA. Betroffen sind nicht nur Kassierer, Taxi- Bus- und LKW-Fahrer, Lager- und Servicehotline-Arbeiter. Denn von zu ersetzender Arbeit gibt es reichlich: Man wundert sich, wieviel Formulararbeit in den Verwaltungen noch von Hand erledigt wird. Wer braucht die heutige Zahl von Wissenschaftlern in der Lehre, sobald es herausragende Onlinekurse gibt, natürlich von Algorithmen betreut, fragt Jeremy Rifkin gerne. Wer finanziert die heutige Zahl von Ärzten und Juristen für Standardaufgaben, wenn wenige Top-Spezialisten für die Supervision und die Spezialaufgaben ausreichen? Industrie 4.0, Digitalisierung und IoT bedeuten weniger Kaufleute, weniger mittleres Management, weniger Kreative – es setzt nach derzeitiger Indizienlage wesentlich mehr Arbeitskräfte frei, als durch den Innovationsschub neu entstehen. Weil Roboter und Bots keine Menschen mehr benötigen, um sich weiterzuentwickeln.

Positiv ausgedrückt: Da könnte viel Zeit für gemütliche Lesestunden und gesellige Kaffeerunden entstehen. Bekannte Beschleunigungstheoretiker wie Hartmut Rosa ficht das nicht an. Gerade weil Arbeit knapp wird, sei sie vom Makel zum Adel avanciert. ‚Überarbeitet sein‘ hat sich von einem bemitleidenswerten Zustand zu einem Signum persönlicher Wichtigkeit gemausert. Erst eine problematische Work-Life-Balance weist einen als High Performer aus – im Unterschied zur Müllabfuhr, wo man einen festen Dienstschluss hat. Wir stressen uns nicht obwohl, sondern weil wir nicht müssen. Rosa resümiert: „Das Dynamisierungsprogramm der Moderne ist gekippt.“ Dabei ist Rosa gar kein echter Vertreter der oben genannten ersten Lesart und des „Weiter-so“.

Für Vertreter des Business as Usual-Ansatzes zeigen die Beispiele vom Taxifahrer bis zum Allgemeinmediziner allerdings ebenfalls: All dieses Ersetzen von Arbeitsplätzen wird nicht gleichzeitig kommen, weder von Land zu Land, noch von Branche zu Branche. Entsprechend gut vorstellbar ist, dass die Folgen über räumliche oder geschäftsfeldmäßige Verlagerungen sowie, jedenfalls in Europa und Japan, über eine demografisch bedingt sinkende Erwerbstätigenzahl abgefedert werden. Bis auf die Demografie war das auch schon bei früheren Industrialisierungsschritten so: Die Dampfmaschine kam nicht auf einen Schlag, sondern über Jahrzehnte, was nichts daran änderte, dass ihr große soziale Verwerfungen folgten. Trotz riesiger technischer Fortschritte brach etwa in Großbritannien die Lebenserwartung zwischen 1750 und 1850 deutlich ein.

"Der Rebound sind Bullshit Jobs.“

Das stärkste Argument der Businss as Usual-Lesart ist in der ökologischen Debatte unter dem Titel Rebound-Effekte bekannt und es spielt der dritten Lesart, das „End of Work zu gestalten“, in die Hände. Rebound meint beispielsweise, dass Geräte zwar effizienter gebaut werden, man sie dann aber mit unsinnigen Zusatzfunktionen vollstopft und intensiver nutzt, so dass gar keine Einsparung stattfindet. Zeit-Rebound heißt, dass der Mensch durch Automatisierung gewonnene Zeit für ressourcenintensivere Tätigkeiten verwendet (statt Wäsche aufzuhängen mit dem Auto ins Fitness-Center). Bezogen auf die Arbeit argumentieren Walter Rogge und Heik Afheldt in einer bekannteren Sammelschrift von 1983 eher marxistisch mit „neuen Bedürfnissen“, die die Menschen nach jedem Automatisierungsfortschritt entwickeln. Anschaulich ausgedrückt: Erlauben uns Fließbänder mehr Massenware, wollen wir zusätzlich individueller auf uns zugeschnittene Produkte.

Digitalisierung und Industrie 4.0 befriedigen diese Wünsche leicht: Sie erlauben uns heute massenhaft individuellere Produkte – durch immer universellere Vernetzung zwischen Konsum und Produktion. Moderne Konsumenten sind Prosumenten, in jedes Reihenhaus gehört demnächst ein 3D-Drucker. Zur eigenen Distinguierung wünschen wir – genauer: diejenigen mit ausreichend Vermögen – uns deshalb heute handgefertigte Möbel und hand crafted beer – und reden uns ein, dies sei auch nachhaltiger (was es meist nicht ist).

Sehr viele Jobs können in diesem Segment nicht entstehen, weshalb sich parallel ein Segment entwickelt, das doch am besten mit den oben genannten „Zusatzfunktionen“ des Rebound-Geräts verglichen werden kann: Außerhalb Deutschlands etwa als Revival des Tütenpackers an der Supermarktkasse, als Return of the Maidservant, also in Form von Dienstleitstungen, für die Occupy-Wallstreet-Theoretiker David Graeber den Titel Bullshit Jobs geprägt hat. „Es ist, als wäre da draußen jemand, der sinnlose Jobs erfindet, nur um uns alle am Arbeiten zu halten“, resümiert Graeber.

So hat zwar in den letzten Jahren jeder Roboter zwei menschliche Arbeitsplätze ersetzt. Dafür entstand für jeden verlorenen Industrie-Arbeitsplatz ein neuer im Dienstleistungsbereich, erklärt Jens Südekum. Er forscht und lehrt am Düsseldorfer Institut für Wettbewerbsökonomie (DICE) der Heinrich-Heine-Universität. Sein Fazit: „Der Nettoeffekt ist also gleich Null, wenngleich die Dienstleistungs-Jobs schlechter bezahlt sind.“

Für viele „Überflüssige“ bedeutet das trotz guter Ausbildung eben auch Arbeitslosigkeit, die die meisten EU-Staaten vorerst für ihre Jugend reservieren. Nach den Eurostat-Zahlen von Dezember 2017 für unter 25-Jährige sind das etwa 50 Prozent in Griechenland, 48 Prozent in Spanien und 40 Prozent in Italien, selbst in Frankreich 25 Prozent. Genau wie das Ende der Arbeit nicht auf einen Schritt droht, entsteht selbst mit Bullshit Jobs kein einheitlich strukturierter Rebound. Digitalisierung und Robotik führen darüber hinaus absehbar dazu, dass viele Menschen während ihres Berufslebens den Beruf werden wechseln müssen – viele sogar mehrmals. Auch wenn es gelingen sollte, dem Ende der Arbeit das Ende zu nehmen, folgen zumindest Prekarisierung und soziale Polarisierung. Lücken im Lebenslauf werden zum Normalfall. Welche Form der sozialen Sicherung kann hier helfen?

"An welche Arbeit lässt sich soziale Sicherung koppeln, wenn sie uns ausgeht?“

Offensichtlich wäre eine an Arbeit gekoppelte soziale Sicherung ein Schildbürgerstreich. Auf diesem, also unserem aktuellen Weg, straft eine heute die politischen Entscheidungen dominierende und gut abgesicherte ältere Generation die junge doppelt: Sie bietet ihr erstens nur wenige feste Jobs an und nutzt das dann zur Rechtfertigung, um sie auch bei der sozialen Sicherung zu benachteiligen.

Eine zeitgemäße soziale Sicherung bestünde stattdessen aus einem Grundeinkommen, gepaart mit einer Bürgerversicherung. Die Gegenargumente gegen diese beiden sind inzwischen im Wesentlichen auf zwei geschrumpft: Dass ihre Finanzierung Etliches umkrempeln würde und dass das Grundeinkommen nicht reflektiert, dass Arbeit den derzeitigen Hauptweg zu gesellschaftlicher Anerkennung darstellt. Selbst wenn ein Grundeinkommen eine gerechtere soziale Absicherung bedeute, argumentieren die Gegner, wären doch ordentliche Jobs das bessere Gerechtigkeitsziel. Aber um welche Jobs könnte es hier gehen, wenn nicht um Bullshit Jobs? 

Für einen nennenswerten Rebound-Effekt der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt benötigt es also personalintensive Bedürfnisse. Die von Denkern wie Rifkin herausgestellten neueren Bedürfnisse mit überwiegend postmaterieller Natur – wie das Bedürfnis sozial vernetzt zu sein – helfen nicht, denn ihre materielle Restkomponente – das von Jugendlichen nicht mehr aus der Hand gelegte Smartphone – macht viel weniger Arbeit als die Befriedigung älterer, meist statusbezogener Bedürfnisse, etwa nach einem größeren SUV.

Der bekannte US-amerikanische Videoblogger CGP Grey argumentiert in Bezug auf Digitalisierung, in der durch sie freigesetzten Zeit könnten zwar viele von uns Künstler werden, aber von Kunst könne man nur leben, wenn auf jeden einzelnen Künstler ein riesiges Publikum komme. Das ist aus marktwirtschaftlicher Perspektive in der Tat ein Problem, nicht aber aus gesellschaftlicher Sicht. Denn mehr Künstler – auch mit jeweils zu kleinem Publikum für eine ohne Grundeinkommen tragfähige Einkommenslage – wären für eine digitalisierte Gesellschaft kein Schaden.

"Es beginnt eine Zeit ohne Markt.“

Stellen wir uns vor, die Digitalisierung erlaube vom Produzenten bis zum Kunden immer mehr Logistikketten ohne den Umweg über die Front End Shops des stationären Handels wie heute schon über Amazon und Co. spürbar. Dann sinkt in den meisten Innenstädten – speziell in den Mittelzentren – der Bedarf für Ladenlokale, die schon rein technisch für unsere Warenversorgung nicht mehr benötigt werden. Vor allem aber können sie größenmäßig nicht mit unseren weiter individualisierten Konsumwünschen mithalten. Und sie erlauben auch nicht das verdichtete Shoppingerlebnis, für das aktuell noch die ganz großen Einkaufs-Meilen und -Center stehen. Was also wird aus den Innenstädten von Delmenhorst oder Witten, die anders als San Francisco oder Bilbao absehbar keine ökonomisch tragfähige Kreativwirtschaft ansiedeln werden? Statt den Wegzug von Douglas, Zara und Co. als Kulturverfall zu erleben, müssten Witten und Co. auf – z. B. über ein Grundeinkommen quersubventionierte – Künstler und Sozialprojekte setzen.

So etwas ist heute erst in Ansätzen vorstellbar. Dabei waren in früheren Jahrhunderten Städte mit knapp fünfstelliger Einwohnerzahl sprudelnde Zentren des Geisteslebens und des kulturellen Austausches. Delmenhorst und Witten haben also mehr zu gewinnen als zu verlieren. Ein Grundeinkommen müsste dazu einen Kulturwandel ermöglichen, durch welchen auch andere als monetär ertragreiche Arbeit Anerkennung findet. Aus eben diesem Grund lautet der Untertitel von Rifkins „End of Work”-Buch auch „The Dawn of the Post-Market Era“.

Vermutlich ist es genau dieser befürchtete Kulturwandel, der die wesentliche Ablehnung der Idee des Grundeinkommens nährt. Verdient nicht in erster Linie handfeste Arbeit Anerkennung, während die Idee eines Werts virtueller Spielereien von Marketingkünstlern etc. eine neoliberale Verirrung ist? Damit kehrt unsere Argumentation zurück zum Thema Überarbeitung: Warum fühlen sich immer mehr Deutsche von der Arbeit gestresst, obwohl 2016 jeder Erwerbstätige im Schnitt nur noch 1363 Arbeitsstunden leistete, während es 1960 noch 59 Prozent mehr waren?

"Die Wertschöpfung ist aus den Fabrikhallen gewandert …“

Die individuellen Ursachen sind natürlich unterschiedliche. Die oben genannte, dass sich diejenigen mit Arbeit von denjenigen, deren Arbeit überflüssig geworden ist, abheben wollen, gehört nicht immer dazu. Eine wichtige Antwort liefert die Theorie: Automatisierung und Digitalisierung zersetzen den Wertmaßstab der Arbeitszeit, eben weil sie ‚echte‘ Arbeit ersetzen. Bildlich ausgedrückt: Die Wertschöpfung ist zusammen mit den menschlichen Arbeitskräften aus den Fabrikhallen gewandert – und nun läuft sie ihnen davon. Nur noch geringe Anteile der Arbeit und der Wertschöpfung werden am Fließband geleistet, stark gestiegen ist dagegen die Bedeutung des Marketings- und Entwicklungsbereichs, der aber nicht in gleichem Maße personell gewachsen ist.

Fragt man die Marketingleute, gibt es nennenswerten Profit nur noch, wenn man immer kleinere Nischen besetzt. Das kennen auch nahezu alle Freiberufler und Wissenschaftler unter den Lesern – es trifft aber auch insgesamt für kleine und mittlere Unternehmen zu. Größer ist der Erfolg, wenn man diese Nischen nicht nur sucht, sondern auch aktiv aufbaut. So kultiviert man eine Nachfrage, die auf einen Engpass an Angebot trifft – und am Engpass ist man selbst positioniert. Jedenfalls so lange, bis die Nische unter dem Druck von Wettbewerbern und weiterer Automatisierung schließlich nicht mehr profitabel ist.

Profitable Nischen sind also prekär und müssen ständig gepflegt werden. Und sie sind ja gerade deshalb eine Nische, weil sie nicht jeder ohne weiteres besetzen kann – denn dann wären sie nicht profitabel. Wer eine Nische aufgebaut hat und hält, ist deswegen nie fertig mit der Aufbauarbeit und gleichzeitig besonders schlecht in der Lage, diese Arbeit mit anderen zu teilen – denn dann ließe sie sich auch von anderen besetzen oder durch Automatisierung beseitigen.

"Stress ist bloß ein Vorgeschmack…“

Die Philosophen Deleuze und Guattari beschreiben es so: „Die Eroberung des Marktes geschieht […] eher durch Kursfestsetzung als durch Kostensenkung, eher durch Transformation des Produkts als durch Spezialisierung der Produktion. Die Korruption gewinnt hier neue Macht.“ Gemeint ist damit, dass Arbeit im Zeitalter der Digitalisierung nicht mehr im alten Sinne produktiv ist, weil sie monopolistische Verkaufssituationen aufzubauen versucht. Profit ergibt sich aus Engpässen oder Monopolen. Dort, wo Automatisierung und Konkurrenz greifen, verschwindet er nach kurzer Zeit. Sobald Computer und Roboter gelernt haben, nach welchem Schema Menschen arbeiten, können sie es schneller und billiger. Wird Konkurrenz nicht künstlich ausgeschaltet, etwa über Patent- und Copyright oder den Netzwerk-Effekt, vernichtet sie den Profit.

Selbstlernende Algorithmen beschleunigen diesen Prozess. Digitalisierung ist das Treibmittel, das Wertschöpfung in immer kleinere und immer kürzer funktionierende Nischen treibt – und die High Performer, die diese profitablen Nischen aufbauen, treibt sie gleich mit. Die Arbeit am Aufbau immer neuer profitabler Engpässe, an lokalen Monopolsituationen, verengt also auch das Leben derer, die sie aufbauen. Nischen sind arbeits- und zeitintensiv – ihre Schöpfer sind dazu verdammt.

Der heutige Stress ist demnach bloß ein Vorgeschmack auf das, was kommt. Das ‚Ende der Arbeit‘ gesellschaftlich zu gestalten, ist also nicht nur eine Frage der Reichtumsverteilung im Angesicht eines Umbruchs, etwa mittels Grundeinkommen. Es ist nicht allen eine Frage der Fairness, mit dem Blick auf eine Jugendgeneration in Bullshit Jobs, sondern auch eine Frage des Eigeninteresses der gestressten Eliten. Wie der Historiker und Bestseller-Autor Rutger Bregman feststellt, “There’s not a person on earth who on their deathbed thinks: Had I only put in a few more hours at the office”.

Dr. Andres Friedrichsmeier ist Organisationssoziologe und arbeitet für das Thüringer Bildungsministerium. Im factory-Magazin Circular Economy (1-2017) schrieb er über den Kreislauf als Alternative.

Weitere Beiträge zur Digitalisierung und ihren möglichen Wirkungen auf Ressourcen- und Klimaschutz, auf soziale Gesellschaften und Individuen gibt es im gleichnamigen factory-Magazin Digitalisierung. Das ist reich illustriert und enthält sämtliche Artikel im kompakten Tablet-Format, dazu entsprechende Zahlen und Zitate. Es lässt sich kostenlos laden und ist angenehm lesbar auf Bildschirmen und Tablet-Computern. Online im Themenbereich sind zunächst nur einige Beiträge verfügbar – dafür lassen sie sich dort auch kommentieren und bewerten.

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