Wenn Bürger sich beteiligen

Bürgerbeteiligungen, Dialogforen und Bürgerentscheide sind spätestens seit Stuttgart 21 und der Abwahl des Duisburger Oberbürgermeisters in aller Munde. Unter öffentlichem Druck lassen Parteien, Verbände und Unternehmen immer häufiger Bürger, Nachbarn und Betroffene bei Entscheidungen mitbestimmen. Die meisten Politiker und Unternehmer halten diese Form der Entscheidungsfindung jedoch immer noch für ein nichtkalkulierbares Risiko, nur wenige schätzen sie als Chance.
Von Simon Wiggen
Für Bundeskanzlerin Angela Merkel ist der „Dialog über Deutschland“ bereits nach wenigen Monaten ein voller Erfolg. Mehr als eine Million Besucher auf der Homepage haben rund 65.000 Kommentare zu knapp 10.000 Vorschlägen zur Zukunft von Deutschland hinterlassen. Bei drei Bürgerdialogen in Erfurt, Heidelberg und Bielefeld diskutierte die Kanzlerin mit je 100 Bürgern über Fragen zu Gesellschaft, Bildung und Wirtschaft. Dabei standen einerseits ganz konkrete Vorschläge zur Diskussion, wie zum Beispiel das ACTA-Abkommen, die Stärkung von Hebammen oder die Legalisierung von Cannabis. Andererseits aber auch grundsätzliche Vorschläge wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, ein neues Schulsystem oder Diskussionen über den Islam.
Die Eingaben werden von Experten aus Wissenschaft und Praxis ausgewertet und in konkrete Handlungsempfehlungen überführt. „Das soll keine philosophische Diskussion sein, die wir hier führen“, sagt Angela Merkel. „Es geht darum, welche Vorschläge wir umsetzen können. Ich hoffe, dass da ein paar Dinge herauskommen, die wir ohne den Dialog nicht auf den Weg gebracht hätten.
Mögliche Einflussnahme
Auch Professor Hans J. Lietzmann, Leiter der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung an der Bergischen Universität Wuppertal, sieht die Bürgerbeteiligung als große Chance. „Es geht gar nicht mehr ohne“, sagt der Politikwissenschaftler. Es gehe nicht mehr um die Frage, ob Bürger beteiligt werden, sondern wie sie beteiligt werden. „Man kann den Bürgern nicht mehr fertige Entscheidungen vorsetzen. Sonst passieren solche Dinge wie in Stuttgart beim Bau des neuen Bahnhofs. Die Bürger resignieren und werden erst dann zum so genannten Wutbürger, wenn sie entweder keine Möglichkeit haben, sich zu beteiligen oder ihre Meinung keinen Einfluss auf die Entscheidung hat.“
Dabei muss Bürgerbeteiligung nicht zwangsläufig in einer Abstimmung enden. Manchmal reicht es, einen Konsens zwischen allen Beteiligten zu erzielen, und manchmal genügt sogar der Dialog, um Konflikte zu lösen.
Von Anfang an
Wichtig ist bei der Bürgerbeteiligung – genau wie bei Stakeholder-Dialogen zwischen Unternehmen und Kunden, Betroffenen oder Nachbarn – eine Einbeziehung aller Interessen von Anfang an. „Wenn die Bürger nur noch Abnicken sollen, kann das nach hinten losgehen“, sagt Lietzmann. So wie Ende März in Gladbeck, wo die Stadt mit dem Bund und dem Land Nordrhein-Westfalen einen Plan für den Ausbau einer Bundesstraße zur Autobahn ausgearbeitet hatte, den die Bürger jedoch in einem Ratsbürgerentscheid ablehnten. Damit liegt das Projekt Autobahnbau bis auf weiteres auf Eis. Die Fronten sind verhärtet.
Das Risiko, dass die Masse vermeintlich konservativ entscheidet und Fortschritt verhindert, schwingt bei jeder Bürgerbeteiligung mit. Aber Demokratie bei einzelnen Projekten kann auch durchaus eine ernst zu nehmende andere Interessenslage bei den Bürgern als bei ihren politischen Vertretern unterstützen. Denn natürlich können Bürger anderer Meinung sein als die Verwaltung oder die Investoren. Das zeigen die Proteste beim Ausbau des Frankfurter Flughafens, bei der Erweiterung des Chemieparks in Marl, beim Bau der CO2-Pipeline von Bayer und bei der Auswahl neuer Starkstromtrassen. Aber gerade an Entscheidungen, die die Bürger direkt betreffen, müssen sie beteiligt werden. Das sind vor allem Verkehrsprojekte, sowie alle Projekte, die Emissionen wie Fluglärm oder Feinstaub nach sich ziehen. In Stuttgart erfuhren die Stadtplaner beispielsweise in Workshops – zusätzlich zu objektiven Lärmmessungen – die subjektive Lärmbelastung der Bevölkerung und deren Wünsche und Erwartungen.
Experten contra Stammtisch
„Auch in die komplexen Themen der Nachhaltigkeit und der Energiewende muss die Meinung der Bürger einfließen“, sagt Hans Lietzmann. „Denn ihr Erfolg hängt wesentlich vom Verhalten der Bürger ab.“ Wichtig sind dabei die Beteiligung und der Austausch mit Experten, sonst mutiert der Dialog zum Austausch von Stammtischparolen statt zur Konsensfindung. „Je mehr der Bürger weiß, desto mehr ist er imstande, eigene Interessen für die Allgemeinheit zurückzustellen“, berichtet Lietzmann aus eigenen Forschungsprojekten. Das gelte für politische Entscheidungen genau wie für unternehmerische Investitionen.
Denn trotz aller Risiken liegen gerade für Unternehmen viele Chancen in der Bürgerbeteiligung und im Dialog mit den Stakeholdern. Auch anfangs unpopuläre Projekte können schließlich für die Betroffenen akzeptabel werden, wenn sie mitreden dürfen und ein Konsens erzielet wird. Die Bürger tragen die getroffenen Entscheidungen mit, spätere Konflikte werden so frühzeitig verhindert. Auch kleinere Unternehmen bekommen nebenbei noch ein Gespür dafür, welche Teile der Bevölkerung welche Interessen haben und von welcher Seite in Zukunft Gegenwind kommen kann. Und das beachtliche, aber oft unterschätzte Know-how einiger Stakeholder kann sogar für die Unternehmen nützlich sein. Das zeigt das Beispiel Rottweil: Dort berieten Bürger mit Experten neun Monate lang über die zukünftige Energieversorgung eines Stadtteils. Herausgekommen ist ein 7,2 Millionen Euro teures Biogaskraftwerk mit Kraft-Wärme-Kopplung. Die Stadtwerke profitierten von der Bürgerbeteiligung, denn plötzlich schlossen sich viele Bürger dem Nahwärmenetz an. Ganz nebenbei verbesserten die Stadtwerke ihr (Öko-)Image in der Bevölkerung.
Simon Wiggen ist Journalist, hat Geographie studiert und arbeitet bei gemeindemenschen.de
Mehr Beiträge zum Themenspektrum Teilhabe, Partizipation und Beteiligung finden Sie nicht nur online, sondern auch in unserem Magazin Teilhabe. Hübsch illustriert und gut lesbar auf Tablet-Computern und Bildschirmen enthält das PDF-Magazin sämtliche Beiträge und Fotos sowie zusätzliche Zahlen und Zitate.
Kommentare
Mehr zum Thema «Teilhabe»:
- Mikrokredite helfen. Oder nicht?
- Haben zum Teilhaben
- Wenn Bürger sich beteiligen
- Mit Anteilen gegen die Krise
- Mikrokredite sind kein Allheilmittel, aber …
- Kleine Kredite und der große Mythos …
- factory-Newsletter 2-2012
- Nutzen statt Besitzen - ein neues Geschäftsmodell, oder was?
- Fairphone im Test: So komfortabel ist das soziale Smartphone
News:
- Sustainia: Neue nachhaltige Netzwelt
- Unmotiviert, uninspiriert, unbeteiligt
- Camper der Zukunft
- Ausgrenzung macht krank
- Labor für Alternativen: Sailing for Sustainability
- Weizsäcker für globale Umweltpolitik ohne USA
- Energiewende: 1500 Einwände zum Netzentwicklungsplan
- Teilhabe als Teil der Nachhaltigkeit
- Story of Change: Warum Karmakonsum allein nicht hilft
- Für mehr Innovation: Beteiligt Betriebsräte!
- Bürger lehnen Wachstum um jeden Preis ab
- Deutsche Wirtschaft soll grüner wachsen
- Zukunft 2012: Besser als gedacht
- Online-Mitbestimmung über Energie- und Umweltpolitik
- Nachhaltigkeit zur Wahl stellen
- Wer Wachstum will, muss umverteilen
- Gute Produkte sind nachhaltig
- Unser Gehirn liebt grünes Design
- Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
- Kreativ im Hackerspace
- Konzepte nachhaltig gestaltender Ordnungspolitik
- Allianz von NABU und Unternehmen will Ressourcensteuer
- Nachhaltigkeitsbanken fordern Transformation des Finanzsystems
- Verantwortungsvoll konsumieren lernen
- Mehr ressourcenschonende statt ressourcenfressende Produkte
- Wald 2.0 für Genossen in Holz
- Die Share Economy als Geschäftsmodell
- Mehr Nachhaltigkeit bei lokalen als bei Online-Händlern
- Seriell Individuell: Handwerk im Design
- Deutscher Lokaler Nachhaltigkeitspreis ZeitzeicheN 2013
- Kommunen und Städte gewinnen durch den Bau Erneuerbarer Energienquellen
- Die Transformation junger Köpfe
- Rekommunalisierung statt Privatisierung
- EU-Saatgut-Gesetz: Nur kleine Nische für Kleine
- Die professionelle Sharing-Economy lernen
- Cold Fusion: Verdichten sich die Hinweise auf eine neue Art der Gewinnung von Energie?
- Faire Energiewende: Wie sie sozial tragfähig wird.
- Wende 2.0: Prominente mit Manifest
- Bundestagswahl: Kandidaten im Erneuerbaren Energiecheck
- Mit dem Stromnetz gegen die Energiewende
- Wohnmobile teilen statt kaufen
- Verbraucher wollen Energiewende mit mehr Gleichberechtigung
- NRW-Atlas zum nachhaltigen Einkaufen
- Erneuerbare Energien kurbeln die kommunale Wirtschaft an
- Deutsche wollen keine Biosprit-Förderung
- Experimente zulassen und davon lernen!
- Fairer Handel. Faire Chancen für alle.
- Crowdfunding für Sustainability-Maker
- Eine Agenda 2030 für NRW?
- Soziales Smartphone: Das erste Fairphone im Test
- Weniger Industrie-Sonderregeln für geringere Energiewendekosten
- Gender und Nachhaltigkeit: Entwicklung und Perspektiven
- Zahl der Energiegenossenschaften weiter gewachsen
- Die Tage des guten Lebens werden mehr
- TV-Tipp: Wem gehört die Welt? Wachstum durch Teilen
- Aktien-Aktion: Die Bürger AG für nachhaltiges Wirtschaften sammelt Beteiligungen
- Gender-Pay-Gap: Frauen verdienen 20 Prozent weniger
- Crowdfunding for Sustainability-Maker
- A Map for sustainable shopping in NRW
- Exclusion makes people sick
- The RV of the Future
- Die feinen Unterschiede
- Unmotivated, uninspired, uninvolved
- Sustainia: A Sustainable Virtual World Is Born
- Klaus Wiegandt: "Nutzen wir endlich unsere demokratischen Rechte!"
- Partaking and Taking Part
- Degrowth-Conference: Crowdfunding-Finale!
- Stadtentwicklung: Alt und neu vereinen
- Zukünftige Manager sollen global verantwortlich handeln
- Ideen für die Stadt von morgen im Bürgertest
- Studentische Bildungsprojekte zur Energiewende gesucht
- Die Anti-Kohle-Kette macht sich stark
- Energieschulden vermeiden
- Heute ist der Welternährungstag ...
- Vattenfall-Braunkohle-Ende: Genossenschaft könnte Wind- und Solaranlagen auf den Tagebauflächen betreiben
- Kann TTIP nachhaltig werden?
- EU-Parlament will Höchstgrenzen für Luftschadstoffe
- Fast 90 Prozent der Bürger finden Klimaschutz wichtig
- Entwurf für Weltklimavertrag ist zu schwach
- Das Ende von TTIP ist nah
- Geldgipfel 2016: Von Divestment über Blockchains bis Gemeinwohl
- Planetary Urbanism – Die transformative Kraft der Städte in 50 ausgewählten Arbeiten
- Ökologisch korrekt wird zur Routine
- Earth Overshoot Day 2016 wieder ein paar Tage früher
- Ranking der Nachhaltigkeitsberichte 2015/2016: Ergebnisse am 23. September
- Stop CETA und TTIP am 17.9. – Dezentrale Großdemo in sieben Städten
- UN-Habitat III-Konferenz mit neuer urbaner Agenda ohne echte Beteiligung – aber mit Chancen
- Grüne Gründer im StartGreen Award 2016: Jetzt abstimmen!
- Das System Erde ist fast ausgebrannt
- Regionale und ökologische Versorgung geht auch in Ballungsräumen und Großstädten
- Agrarwende 2050 in Deutschland: Mit halbiertem Fleischkonsum zum Klimaziel
- Die Strompreise müssen die regionale Wahrheit sagen
- Nachhaltigste Unternehmen, Forschung, Städte, Architektur und StartUps 2017 gesucht
- Gemeinwohl-Ökonomie, Kakao-Handel und Bildungsplattform für Geflüchtete ausgezeichnet
- Deutsche wünschen sich starken Staat für besseren Umwelt- und Klimaschutz
- Deutschland kann und muss bis spätestens 2035 aus der Kohleverbrennung aussteigen
- Neue Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 will die Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele unterstützen
- Nachhaltige Entwicklung geht nur mit gesunden Böden
- Was die Think-Tanks der Welt für die G20-Verhandlungen empfehlen
- Sharing für die Umwelt: Das Potenzial ist groß, das Angebot zu unbekannt
- Festival Maker Faire macht kreativ und ressourcenleichter
- Verkehrswende: Deutschland kann bis 2035 emissionsfrei mobil sein
- Lasst die Wirtschaftswissenschaft transformativ werden
- Welternährungstag 2017: Mehr Hunger trotz Industrie. Kleinbauern stärken, Konzernmacht begrenzen, Lebensmittelsystem beenden – das wollen die NGO
- Deutliche Mehrheiten für Kohleausstieg und schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien
- Städte können mehr gegen den Klimawandel tun als gedacht
- Effizienzpreis NRW 2017: Produkt, Prozess oder Konzept?
- Ranking der Nachhaltigkeitsberichte und Monitoring der CSR-Berichtspflicht 2018 startet
- Mit dem Rad zu Verkehrswende und Stadtwandel
- Große Koalition kann Klimaziele mit ambitioniertem Fünf-Punkte-Plan noch schaffen
- Mehrheit will Stilllegung alter Kohlekraftwerke – Kohlekommission muss gesellschaftliche Interessen abbilden
- Arbeit hat viele Facetten: Der Atlas der Arbeit zeigt sie
- Ein Tag des guten Lebens für alle
- Hambacher Wald: Mehrheit der Bevölkerung ist für den Erhalt
- Wie sich das Klimaziel 2030 sicher erreichen lässt
- Doppeldemo für schnelleren Klimaschutz
- Weltweit steigender Ressourcenverbrauch treibt Klimawandel und Artenverlust
- Deutschlands Klimabilanz 2018: Wegen warmer Witterung 4,2 Prozent weniger Treibhausgasemissionen
- Strukturen bremsen Geschlechtergerechtigkeit weiterhin
- Deutsche sehen in Digitalisierung nach den Corona-Erfahrungen mehr Chancen für die Umwelt
- Zukunft Für Alle-Kongress mit über 200 Veranstaltungen zu Utopien und Transformation
- Wie eine neue Bundesregierung die Umwelt- und Klimaziele bis 2030 und 2045 sozial und ökologisch gerecht erreichen kann
- Risiken der Erderhitzung für Deutschland: Nur mit schnellen Maßnahmen zu begrenzen
- Earth Overshoot Day: Die Menschheit verbraucht 1,74 Erden
- Ökologisch und sozial gerechte Politik mit Transformationskabinett, Bürgerräten und Kooperation
- Scheinlösungen führen nicht zu mehr Klimaschutz
- Ernährung, Gesundheit und Klima zusammendenken
- Land kann Erneuerbare-Energie-Anlagen-Betreiber verpflichten, Bürger*innen zu beteiligen
Kommentar hinzufügen