
Das Domino-Prinzip: die Mobilitätswende als Motor für die „Große Transformation“
Der Wandel der heutigen automobilen Gesellschaft ist in mehrfacher Weise ein Dominostein für eine „Große Transformation“: Kaum ein Bereich ist so intensiv mit den anderen zentralen „Wenden“ zu einer Nachhaltigen Gesellschaft verknüpft, in keinem anderen Feld gibt es eine so enge Verbindung mit den spezifischen Funktionsweisen des aktuellen Wirtschaftssystems. „Zukunftskunst“ im Feld der Mobilität weist daher weit über den Verkehrssektor hinaus.
Von Uwe Schneidewind
Mit der „Großen Transformation“ wird seit dem gleichnamigen Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen (WBGU 2011) die umfassende technologische, ökonomische, politische und kulturelle Transformation moderner Gesellschaften hin zu einer Nachhaltigen Entwicklung bezeichnet.
Die Große Transformation vollzieht sich dabei als ein Prozess eng miteinander vernetzter Wenden (vgl. Abb. 1, S. 24 im factory-Magazin Mobilität): Diese reichen von einer grundlegenden Energie- und Ressourcenwende bis zur Entwicklung neuer Konsummuster und Wohlstandsmodelle. Sie konkretisieren sich in einer umfassenden Transformation unserer Städte (Urbane Wende), der industriellen Produktion (Industrielle Wende) oder der Ernährungsgewohnheiten und -produktion (Ernährungswende).
Der Mobilitätswende kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Knapp 30 Prozent der benötigten Endenergie in Deutschland verbraucht allein der Verkehrssektor. Die Ressourcenherausforderungen der Automobilproduktion und –nutzung erhalten gerade mit der Umstellung auf elektrische Antriebe nochmals eine neue Dimension. Und nichts steht heute mehr für eine Wohlstands- und Konsumwende als die Mobilität in den Städten, in denen ein massiv ausgebauter Fahrrad-, Fuß- und öffentlicher Nahverkehr die neuen Symbole für hohe urbane Lebensqualität sind, wie Städte wie Kopenhagen oder Groningen zeigen. Die Urbane und die Industrielle Wende vollziehen sich deswegen nicht nur in Deutschland entscheidend im Mobilitätssektor. Die Mobilitäts- oder Verkehrswende ist zentraler Dominobaustein für alle weiteren Wenden der Großen Transformation.
Die Automobilindustrie als Schlüsselindustrie des heutigen ökonomischen Systems
Bei der Mobilität wird zudem deutlich, wie eng die moderne automobile Gesellschaft mit den Nebenfolgen unserer modernen Wirtschaftsordnung verknüpft ist (vgl. Abb. 2, S. 24, factory-Magazin Mobilität): Kein anderer Sektor verdankt seinen heutigen ökonomischen Erfolg dem weitgehenden Rückgriff auf ökologische Ressourcen, ohne deren „wahre Preise“ zahlen zu müssen. Wenige andere Industrien sind derzeit so auf Wachstum zur Stabilisierung ihres Erfolgsmodells angelegt und wirken so intensiv auf den kulturellen Code moderner Wohlstandsgesellschaften ein. Und sowohl die heutige Praxis des Verkehrs – gerade in Städten – als auch der sich abzeichnende Strukturwandel sind mit erheblichen sozialen Verwerfungen verbunden.
Eine nachhaltige Weiterentwicklung des Mobilitätssektors ist daher auch ein Kompass für eine zukunftsverträgliche Weiterentwicklung unseres Wirtschaftssystems insgesamt.
Die Kunst der automobilen Wende
Für die Kunst einer „automobilen Wende“ müssen Politik und Unternehmen entlang von vier Dimensionen klug zusammenspielen (vgl. Abb. 3, S. 25, factory-Magazin Mobilität). Gerade die Automobilhersteller sind dabei in besonderer Weise gefordert:
Es gilt einmal die massiven disruptiven Potenziale neuer Technologien (wie der Elektromobilität, dem autonomen Fahren, der digitalen Vernetzung) in Geschäftsmodelle zu übersetzen, die den Anforderungen einer Nachhaltigen Entwicklung gerecht werden (siehe factory-Magazin Mobilität S. 28 und 43). Genauso wichtig ist es aber für die Industrie, eine neue ordnungspolitische und „kultur-gestaltende“ Mitverantwortung wahrzunehmen: Es geht um eine politische Mitgestaltung, die sich nicht auf die möglichst lange Absicherung des Status Quo beschränkt. Das war das Muster der letzten Jahrzehnte und wird zunehmend zur Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Denn in China, aber auch in den USA entstehen längst neue Bündnisse zwischen Politik und der Mobilitätsbranche, die innovative Randbedingungen für den industriellen Übergang in eine neue Mobilität bereiten.
Auch die massive kommunikative Kraft der Branche gilt es in neuer Weise zu nutzen. Nur wenn sie für die positive kommunikative Aufladung neuer Mobilitätsformen genutzt wird, wird die Branche ihrer Verantwortung für gesellschaftliche Zukunftssicherung gerecht.
Den Stein zum Fallen bringen
Die Mobilitätswende ist ein zentraler Dominostein für die Große Transformation. Es ist zu hoffen, dass sowohl die Mobilitätsbranche als auch die Politik auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene diesen Stein durch kluge Zukunftskunst in die richtige Richtung zum Fallen bringen.
Prof. Dr. Uwe Schneidewind ist Präsident des Wuppertal Instituts und unter anderem Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen, der die Bundesregierung berät. Im Oktober 2018 erschien sein jüngstes Buch „Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels“ im Fischer-Verlag. Zur transformativen Kraft der Wissenschaft schrieb er im factory-Magazin Trans-Form.
Weitere Beiträge zum Thema Mobilität und Verkehrswende finden Sie im gleichnamigen factory-Magazin Mobilität. Das lässt sich kostenlos laden und ist angenehm lesbar auf Bildschirmen und Tablet-Computern. Wie immer ist es dazu hübsch illustriert und enthält sämtliche Artikel im kompakten Tablet-Format, dazu entsprechende Zahlen und Zitate. Online im Themenbereich sind ebenfalls einige Beiträge verfügbar – dort lassen sie sich auch kommentieren und bewerten.
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