Sisyphos

Mit Gemeingut gegen das Politikversagen

Wächst der Frust über die herrschende Wirtschaftsordnung, wachsen auch neue Ideen  und Alternativen. Weil ihr Gemeinwohl mehr wert ist als Geld, findet eine Gegenkultur neue Lösungen zum guten Leben. Dezentral und gut vernetzt könnten die Inseln zum Kontinent werden.

Von Annette Jensen und Ute Scheub

Alles, was Alex Shure erfindet, stellt er als offene Quelle ins Internet. Da ist zum Beispiel ein handschmeichelnder Holzwürfel: Je nachdem, welche Seite oben ist, kann man damit Lampen dimmen oder Musik lauter stellen. Von der Elek­tronik im Innern ist nichts zu sehen, und selbst Alex Shures zweijähriges Patenkind hat das Prinzip verstanden. Doch das Ganze ist mehr als Spielerei: Solche Würfel könnten viele Stromleitungen in neuen Wohnungen überflüssig machen. Auch der Betrieb von Shures Garagenwerkstatt in Siegen ist innovativ. Die Stromausbeute der Fotovoltaikanlage auf dem Dach speichert er in einer Batterie und versorgt damit seine LED-Lampen und die CNC-Fräse. Die Konstruktion macht die Umwandlung von Gleichstrom in Wechselstrom und zurück überflüssig und verhindert damit Energieverluste. Darüber hinaus sind auch keine Transformatoren zwischen Steckdose und Gerät mehr nötig; das spart Kupferdraht und andere Rohstoffe.

Wer will, darf Alex Shures Erfindungen einfach nachbauen, sie an die eigenen Bedürfnisse anpassen oder weiter entwickeln – allerdings nur, wenn er auch diese Pläne anschließend kostenlos hochlä

Besitz ist keine Bedingung

Aus Sicht traditioneller Ökonomen verhält sich Alex Shure völlig irrational: Er verschenkt Ideen und Baupläne, mit denen er wahrscheinlich viel Geld verdienen könnte. Doch genau das interessiert den 27-Jährigen nicht. Er hat einfach keine Lust auf Konkurrenz und Karriere, sondern lebt stattdessen lieber in einer weltweit vernetzten Gemeinschaft von Leuten, die sich gegenseitig unterstützen. Zur Zeit schläft er in der Wohnung eines Bekannten in Berlin, der gerade verreist ist und isst in der Nowhere Kitchen in Neukölln, wo Leute das gemeinsam zu köstlichen Mahlzeiten verarbeiten, was gerade da ist. 

Weil solche neuen Formen der Wirtschaft nicht der alten Quantifizierungs- und Wachstumslogik folgen, blieben sie lange Zeit unterhalb des Radarschirms der traditionellen Ökonomie. Doch inzwischen entwickeln sie sich in erstaunlichem Tempo und wuchern in den Mainstream hinein. 

Im Internet gibt es freie Soft- und Hardware-Programme, die sich jeder einfach herunterladen kann. Auch Leihen, Tauschen und Teilen von Alltagsgegenständen findet vor allem bei jungen, gut ausgebildeten Menschen in Großstädten immer mehr Anhänger. Dahinter steht die Erfahrung, dass Besitz keine Voraussetzung mehr ist, um Gegenstände nutzen zu können. Mit dem Smartphone oder Laptop ist in Sekundenschnelle herauszufinden, ob jemand in der Nähe einen Beamer oder Fonduetopf besitzt, den man gerade mal braucht. Auch das eigene Auto assoziieren viele junge Leute heute eher mit Stau und Parkplatznot als mit Freiheitsgefühlen – und borgen sich lieber eines, wenn sie mal eines brauchen. 

Das Internet macht die direkte Verbindung von Einzelpersonen über Tausch-und Leih-Plattformen möglich. Entscheidend für das dabei notwendige Vertrauen ist das Reputationssystem: Wer unzuverlässig ist, einen fettverschmierten Grill zurückbringt oder anzügliche Witze reißt, muss mit negativen Kommentaren rechnen und hat dann kaum eine Chance, weiter als Ver- oder Entleiher akzeptiert zu werden.

Gut vernetzt gleich leicht geteilt

Antreiber dieser neuen Bewegung sind weder ökologische noch moralische Motive, sondern der Wunsch nach einem guten Leben. Geld und immer mehr Geld ist fürs Wohlbefinden der Menschen in reichen Ländern völlig irrelevant, hat die internationale Glücksforschung herausgefunden. Zugleich ist vielfach belegt, dass wachsende Ungleichheit eine Gesellschaft zermürbt und unzufrieden macht. Nicht einmal diejenigen, die oben sitzen, fühlen sich besser. Was aber ist dann der Sinn einer Wirtschaftsweise, die das Weltklima aufheizt, immer mehr Arten den Garaus macht und Menschen, Tiere und Pflanzen vergiftet?

Auf vielen Ebenen und in vielen Ländern haben sich in den vergangenen Jahren Betriebe und Projekte entwickelt, die auf Werten wie Fairness und Gemeinschaftlichkeit basieren. Das reicht von solidarischer Landwirtschaft, bei der die Arbeit von Bauern und nicht deren Ware finanziert wird, über städtische Gemeinschaftsgärten bis hin zu Energiegenossenschaften. Kollektiv- und Reparaturwerkstätten sind entstanden und neue Formen von Carsharing

Zwei technische Entwicklungen unterstützen die Ausbreitung solcher Unternehmungen enorm: Die Erneuerbaren Energien und das Internet. Beide sind strukturell dezentral und haben damit das Potenzial, den herrschenden Großstrukturen etwas entgegenzusetzen. Das Internet ermöglicht den weltweiten Ideenaustausch, ist aber auch ein hervorragendes Werkzeug für kleinteilige, lokale Vernetzung von Gleichberechtigten. Die Attraktivität der Initiativen resultiert aus der lebendigen Anschauung, dass es anders geht als in einer von Sachzwängen und Großkonzernen dominierten Welt.

Fördern statt Fordern

Dabei sind die überall auf der Welt entstehenden Projekte und Initiativen nicht angetreten, den Kapitalismus und sein Wachstumsdogma anzugreifen. Sie beziehen sich gar nicht darauf und wuchern stattdessen fröhlich nach den eigenen Werten und Wünschen vor sich hin. Sie inspirieren und stützen sich gegenseitig, werden dabei immer zahlreicher und vielfältiger, und je mehr Maschen das Netz hat, desto rascher läuft die Entwicklung. In Berlin war in den vergangenen zwei Jahren geradezu eine Explosion solcher Projekte zu beobachten. 

Vieles beginnt ganz klein: Man muss nicht gleich das ganze Leben ändern, um hier mitzumachen. Die ersten Schritte aber sind oft mit der Erfahrung verbunden, dass es mehr Spaß macht, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, als sich einem Weltkonzern ausgeliefert zu fühlen, der seiner Kundschaft endlose Schleifen in einer Hotline zumutet. Und statt um inszenierte Einkaufserlebnisse geht es hier um echte Begegnungen. 

Warum sollte aus solchen mehr oder weniger seligen Inseln nicht ein ganzer Kontinent erwachsen können? 

Klar ist jedenfalls, dass das gegenwärtige politisch-wirtschaftliche System sich immer mehr selbst delegitimiert und dabei moralisch hohl wird. Ein Vierteljahrhundert Klima­diplomatie hat es nicht geschafft, den jährlichen CO2-Ausstoß zu verringern, und der Verbrauch seltener Ressourcen schreitet rasant voran. Der Realwirtschaft von 65 Billionen US-Dollar stehen heute „Finanzprodukte“ im „Wert“ von 600 Billionen Dollar gegenüber. Die nächste Blase platzt bestimmt. Ein Weiter-so ist mittelfristig ausgeschlossen. 

Ob sich kleinteilige, dezentrale, überschaubare Strukturen großräumig durchsetzen können und Gemeingüter Aufschwung nehmen, wird aber auch von staatlichen Rahmenbedingungen abhängen. Bisher fixieren sich fast alle Regierungen auf das Wachstumsdogma und proklamieren, dass sich Probleme nur dann lösen lassen, wenn das Bruttoinlandsprodukt stetig steigt. Als Vorantreiber eines ökosozialen Wandels hat die Politik bisher versagt. Bleibt zu hoffen, dass sie hier erkennt, welche Chancen in der Förderung dieser neuen Strukturen liegen.

Annette Jensen und Ute Scheub haben das Buch Glücksökonomie – wer teilt, hat mehr vom Leben verfasst, das Ende August bei oekom erscheint. Annette Jensen schrieb in factory über Unternehmer im Glück, Ute Scheub in der factory "/-in" über Weiberwirtschaft.

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