Es war absehbar, und doch überraschend. Wenige Minuten vor dem Jahreswechsel hatte die EU-Kommission an Silvester 2021 ihren Regulationsvorschlag an die EU-Mitgliedsstaaten geschickt. Nach ihrem Verordnungsentwurf sollen Investitionen in Erdgas- und Atomkraftwerke als klimafreundlich gelten, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen.
Damit diskreditiert die EU ihr eigens für den klimaneutralen Umbau der Industrie geschaffenes Finanzierungsinstrument, die EU-Taxonomie, kritisieren Klima- und Umweltschützer*innen und zahlreiche politische Vertreter*innen.
Denn eigentlich lassen sich mit den Taxonomie-Kriterien Investitionsvorhaben ökologisch präzise bewerten. Damit sollte die Finanzierungsströme fossiler und atomarer Energieerzeugung umgeleitet werden in "nachhaltige Investitionen". Banken, Versicherungen und Finanzinstitute sollten ihre Anlageangebote entsprechend klassifizieren können, so dass statt in Atom-, Öl-, Kohle- und Gasindustrie das Geld der Anleger*innen und Investor*innen in Solar, Wind, und nachhaltige Unternehmen fließen sollte.
Wie wichtig dieses so genannte Divestment und das Umleiten der Finanzströme in erneuerbare Energien ist, zeigt auch das neue factory-Magazin Industrie. Schließlich will die EU bis 2030 ihre CO2-Emissionen um mindestens 55 Prozent reduzieren, bis Mitte des Jahrhunderts will sie klimaneutral wirtschaften; Deutschland bis 2045. Klar ist, dass dazu die energieintensiven Industrien wie Stahl-, Zement- und Chemieproduktion auf Wasserstoff umstellen müssen – und zwar auf grünen, der aus erneuerbarem Strom erzeugt wird.
Die notwendigen Investitionen dazu sind immens, erklärt Stefan Lechtenböhmer, Experte für die Industrietransformation am Wuppertal Institut im factory-Magazin, ließen sich aber bewältigen, denn das Kapital dafür ist da. Mit der Taxonomie sollte besonders privates, aber auch öffentliches Kapital für die Industriewende aktiviert werden. Doch mit der Einstufung von Atom- und Erdgaskraftwerken als "nachhaltig" lassen sich die herkömmlichen Angebote auch weiterhin verkaufen – nun sogar als nachhaltig. Dabei fordert selbst die Europäische Zentralbank inzwischen, dass Banken nach Nachhaltigkeitskriterien investieren.
Das Problem dabei ist, dass nachhaltiges Investment zwar populär, aber noch zu marginal ist. Der Großteil der institutionellen Investitionen fließt immer noch in fossile Projekte. "Greenwashing", die Kennzeichnung umweltschädlicher Produkte, ist gerade bei kommerziellen Anbietern die Regel. Das zeigt auch eine Untersuchung des Verbraucher-Portals Faire Fonds, das selbst bei 650 "Nachhaltigkeitsfonds" nur 100 gefunden hat, die wirklich nachhaltig sind.
Auch wenn die EU-Bewertungen an Auflagen geknüpft sind – die Atomwirtschaft muss sichere Entsorgung radioaktiver Abfälle gewährleisten, die Gasindustrie die Umstellbarkeit neuer Kraftwerke auf Wasserstoff – und Investor*innen dies sofort erkennen sollen, sehen die meisten Kritiker*innen darin genau das Greenwashing, das es laut EU-Kommission nicht geben soll.
"Die EU-Kommission betreibt mit diesen Vorschlägen Greenwashing", beschreibt es die Bürgerbewegung Finanzwende. "Mit ihrem Einknicken vor nationalen Interessen erweist die Kommission nachhaltigen Finanzmärkten in Europa einen Bärendienst." Die Entscheidung der Kommission beschädige die Glaubwürdigkeit der Taxonomie erheblich. Da Anlegerinnen und Anleger in vielen europäischen Ländern weder Atomkraft noch fossiles Gas als nachhaltig bewerten, "wird das Wirrwarr verschiedener Standards auf absehbare Zeit bleiben und Greenwashing begünstigen", heißt es.
Die Einstufung von Investitionen in Atomkraft als nachhaltig wird in Deutschland weitestgehend abgelehnt, beim Erdgas sieht es schon anders aus. Schon im Koalitionsvertrag 2021 sind neue Gaskraftwerke vorgesehen – dabei sind sie nach den Entwürfen für ein klimaneutrales Energiesystem unnötig und zementieren eher die Abhängigkeit von teuren Imnporten und zentraler Infrastruktur.
Auch Erdgas dürfe nur noch begrenzt eingesetzt werden, um nicht als „stranded investment“ in Infrastruktur und Kraftwerke in absehbarer Zeit Steuergelder zu verbrennen und es damit seinem Pendant Kohle gleich zu tun, heißt es in einer Pressemittelung des Bundesverbandes Erneuerbare Energien (BEE).
Der Vorschlag der Kommission wird nun bis Mitte Januar mit den Mitgliedstaaten konsultiert, bevor er formal durch die Kommission als delegierter Rechtsakt angenommen wird. Nur eine qualifizierte Mehrheit im EU-Parlament oder im Rat kann ihn ablehnen. Dies gilt aber als unwahrscheinlich.
Noch bei der Einstufung von Erneuerbaren Energien habe die EU-Kommission öffentlich gefragt, ob diese nachhaltig sind, kommentiert Matthias Kopp, Leiter Sustainable Finance beim WWF Deutschland. "Bei Atomkraft und Erdgas traut sie sich das nicht." Eine verkürzte, nicht öffentliche Konsultation könne nicht kaschieren, dass die EU-Kommission wisse, dass eine EU-Taxonomie mit Atomkraft den wissenschaftsbasierten Weg verlasse.
Mehr zur Notwendigkeit nachhaltiger Investitionen in den factory-Magazinen Divestment und Industrie. Insbesondere dort wird deutlich, wie bedeutsam die Umlenkung von Kapital in den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien für die Erreichung der Klimaziele ist.