News

Nachhaltige Lösungen für die urbane Logistik: Lastenräder, Mikrodepots und urbane Produktion

Wenn die Verkehrswende in den Städten gelingen soll, muss auch der Lieferverkehr umweltfreundlicher werden. Zudem boomt der Online-Handel und hat durch die Coronakrise einen weiteren Schub erhalten. Dreihundert Expert*innen haben Logistik und Mobilität in der Stadt von morgen untersucht und sind anhand bereits praktizierter Lösungen und einem in vielen Städten stattfindenden "Copenhagenizing" zu einem Best-Practice-Szenario einer nachhaltigen Stadtlogistik gekommen. Technische Lösungen spielen dabei eine geringere Rolle, Cargobikes, Sharing und Urban Production dagegen die größere.

Weil in den Städten die Verkehrsdichte zunimmt – verursacht auch vom wachsenden Onlinehandel und dem zugehörigen Zustellverkehr – häufen sich die  Konflikte um den knappen Verkehrsraum. Rad- und Fußverkehr benötigen mehr Platz, umweltfreundliche Busspuren und so genannte Umweltspuren ebenso, hinzu kommt ein wachsender Lieferverkehr, vor allem wegen der Paketdienste. Selten gelingt aktuell eine nachhaltige Ausgestaltung des Stadtverkehrs. Wie es gehen könnte, haben Stephan Rammler und Thorsten Kostka schon im factory-Magazin Mobilität in ihrem Beitrag Die Städte nutzen den Raum vorgestellt.

Im Projekt Stadtquartier 4.0 haben Wissenschaftler*innen und Expert*innen nun erstmals praktikable Lösungen für eine nachhaltige Stadtlogistik zusammengetragen. Das war das Ziel des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von Anfang 2017 bis Anfang 2020 finanzierten Forschungsprojekts, geleitet vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner. Nun liegt die abschließende Studie „Logistik und Mobilität in der Stadt von morgen“ mit entsprechenden Best-Practice-Beispielen vor. 

In einer deutschlandweiten Befragung hatten sich die 300 Expert*innen dafür ausgesprochen, zur Verringerung von Lieferverkehrsströmen in Städten neue Wege zu gehen. Beispielsweise sollen anbieteroffene Mikrodepots und Lastenräder die Zustellfahrten konkurrierender Anbieter auf der „letzten Meile“ ersetzen.

Drei Ansätze zur Verringerung von Lieferverkehren standen im Zentrum der Untersuchung:

  1. die Nutzung von anbieteroffenen Mikrodepots und Paketstationen, 
  2. das Teilen („Sharing“) u.a. von Verkehrsmitteln, und 
  3. die Produktion von Konsumgütern direkt in der Stadt oder im Quartier („urbane Produktion“).

Alle drei Komponenten wurden in einem gemeinsamen Pilotprojekt in enger Kooperation mit den Verantwortlichen des Holzmarkt-Areals, eines alternativen Wohn- und Gewerbeprojekts in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg, praktisch erprobt. Das IRS war im Projektverbund für die sozialwissenschaftliche Begleitforschung verantwortlich. Diese schloss Befragungen von Expertinnen und Experten aus den Bereichen Stadtlogistik, Stadtentwicklung und Verkehr ein. Letztere wurde als Delphi-Befragung realisiert, in der die Fachleute in zwei Befragungswellen die Realisierungschancen für die neuartigen Ansätze und ihre Wirkung auf eine nachhaltige Stadtentwicklung einschätzen sollten.

Ein Großteil der Befragten sprach sich für einen radikalen Wandel in der Stadtlogistik aus. Sie zeigten sich skeptisch gegenüber rein technologieorientierten (z.B. Drohnen, unterirdische Zustellwege) oder marktgläubigen Ansätzen. Stattdessen plädierten sie für ein starkes Engagement der Kommunen, für regulatorische Eingriffe, für Kooperationen zwischen Staat und Wirtschaft, für eine intensive Beteiligung von Quartiersbewohnerinnen und -bewohnern, sowie für veränderte Konsumgewohnheiten.

Mikrodepots und Paketstationen:

Diese beurteilten die Befragten unter der Voraussetzung als wirksam, dass ein dichtes, anbieteroffenes Netz solcher Depots geschaffen wird, das sicher, einfach und zuverlässig zu benutzen ist, das mit nachhaltigen Verkehrsmitteln zur Abholung oder Endanlieferung (Lastenräder, leichte Elektrofahrzeuge) gekoppelt und durch Anreize für geändertes Konsumverhalten (z.B. Verbot kostenloser Retouren) unterstützt wird.

Das Sharing von Fahrzeugen:

Sharing wird als nachhaltig beurteilt, wenn es sich um stationsbasierte Angebote handelt, welche die Städte u.a. durch die Umwidmung von öffentlichen Stellplätzen zu Carsharing-Stellplätzen und die Vergabe von Konzessionen fördern.

Urbane Produktion:

Urbane Produktion, etwa von Lebensmitteln und Kleinserienprodukten (urbane Landwirtschaft, 3D-Druckverfahren), wird dann als wirksam beurteilt, wenn es der Stadtplanung gelingt gemischte Flächennutzungen von Wohnen und Gewerbe zu realisieren und entsprechende Nutzungskonflikte und Flächenkonkurrenzen zu entschärfen.

Für alle drei Ansätze gilt nach Ansicht der Expertinnen und Experten, dass ihr Nutzen aktiv kommuniziert und demonstriert werden muss. Dr. Ralph Richter, der die Studie mit realisiert hat, nennt weitere begünstigende Bedingungen: „Neuartige Praktiken in der Stadtlogistik haben besonders gute Realisierungschancen in dicht bebauten Gründerzeitquartieren mit einem jungen und kreativen Milieu. Deren postmaterialistische und ökologische Wertvorstellungen passen zur Nutzung von Sharing-Angeboten, Paketstationen und vor Ort hergestellten Produkten. Weniger empfänglich für solche Angebote sind hingegen ärmere Bevölkerungsschichten, obwohl gerade Carsharing auch die Haushaltskasse entlasten kann. Für eine breite Etablierung von nachhaltigen Logistiklösungen kommt es darauf an“, so Richter weiter, „diese Angebote auch für weniger privilegierte Bevölkerungsschichten attraktiv zu machen.“

Best Practice-Szenario der nachhaltigen Stadtlogistik

  • Das erste Element des Best Practice-Szenarios sind nachhaltige Logistiklösungen auf der letzten Meile. Die Zustellung von Paketen geschieht entweder durch Selbstabholung bei anbieteroffenen Paketstationen und in Paketshops oder über Mikro-Depots mit anschließender emissionsarmer Zustellung per Lastenrad oder Elektrotransporter. Voraussetzung ist die Bündelung der Distributionswege auf der letzten Meile unter Federführung der Kommune. Diese hat in Kooperation mit der Logistikwirtschaft, der Wissenschaft, lokalen Gewerbebetrieben und den Menschen im Stadtquartier eine Plattform-lösung entwickelt und ein engmaschiges Netz aus nichtproprietären Paketstationen und Mikro-Depots geschaffen.

    Die Belieferung von Paketstationen und Mikrodepots erfolgt hauptsächlich in der Schwach- und Nebenverkehrszeit durch die KEP-Dienstleister von ihren regionalen Depots aus. Die letzte Meile-Logistik geschieht dann hauptsächlich durch einen kommunalen White-Label-Anbieter oder durch einen KEP-Dienstleister, der in einer wettbewerblichen Vergabe hierfür eine zeitlich begrenzte Konzession erhalten hat. Die gebündelte Adresszustellung erfolgt ausschließlich über die Mikro-Depots, wobei emissionsarme Fahrzeuge zum Einsatz kommen (Lastenräder, Elektrotransporter). Da die Haustürlieferung deutlich teurer ist als die Selbstabholung, besorgen sich viele Menschen ihre Pakete in Paketstationen oder in Paketshops, die fußläufig, d.h. nicht weiter als 500 Meter von ihren Wohnungen entfernt liegen. Für den Transport größerer Pakete stehen an den Paketstationen kostenlose Lastenräder bereit, so dass auch die Abholung größerer Sendungen ohne Privat-PKW möglich wird.

    Aufgrund der höheren Versandkosten und dem Verbot kostenloser Retouren wächst das Sendungsaufkommen nur noch moderat. Für lokale Geschäftsinhaber ist die Paketabgabe und -annahme ein einträgliches Zusatzgeschäft. Der stationäre Einzelhandel wird gestärkt und bringt neue Geschäftsmodelle hervor.

  • Ein zweiter Baustein in der nachhaltigen Logistik- und Mobilitätsstrategie sind Sharing-Angebote. Zusammen mit einem attraktiven ÖPNV und gut ausgebauten Fuß- und Radwegen trägt ein flächendeckendes Netz von Carsharing-Stationen zur Abnahme des privaten PKW-Besitzes in den Großstädten bei. Der ruhende Verkehr wird spürbar reduziert; vormalige Parkplätze können neu genutzt werden, z.B. für das Pflanzen von Straßenbäumen, das Einrichten von Bike-Sharing-Sta-tionen und das Aufstellen von Tauschschränken.

    Weitere öffentliche Stellflächen werden zu exklusiven Abstellplätzen für Carsharing-Fahrzeuge umgewidmet, so dass sich in den Straßenzügen oft mehrere kleine Carsharing-Stationen befinden. Die Sharing-Stellflächen verfügen über E-Ladestationen und die meisten Sharing-Fahrzeuge sind elektrisch betrieben. Für die Nutzung der Carsharing-Flächen vergibt die Stadt Konzessionen an eine begrenzte Zahl von Sharing-Anbietern (je nach Stadtgröße 1 bis 3).

    Die Nutzung von Carsharing und der Verzicht auf ein eigenes Auto werden unterstützt durch deutlich gestiegene Preise für das Anwohnerparken und für das Parken auf öffentlichen Parkplätzen. Stationäre Carsha-ring-Fahrzeuge parken dort zum halben Preis. Auch sonst ist die Nutzung von Carsharing-Fahrzeugen bequem und güns-tig. Freefloating-Angebote können sich durch die Parkraumbewirtschaftung und das dichte Netz an Carsharing-Stationen nicht durchsetzen.

  • Die dritte Säule der nachhaltigen Stadtlogistik ist die urbane Produktion. Verteilt über die Stadt befinden sich Gewer-bebetriebe kleiner und mittlerer Größe, welche in kleinen Gewerbehöfen oder in für das Wohnen ungeeigneten Erdge-schosszonen angesiedelt sind. Zu den Gewerben zählen neben Geschäften auch nichtstörende Handwerksbetriebe, fein-industrielle Fertigungen, Kleinserienproduktionen mittels 3D-Druck und Makerspaces.

    Die Zunahme urbaner Produktion reduziert Verkehr durch kürzere Arbeitswege und verringerte Warentransporte, da viele vor Ort hergestellte Waren auch lokal verbraucht werden. Möglich wird der Aufstieg der urbanen Produktion durch die Ausweisung von verschiedenen städtischen Lagen als „urbane Gebiete“ gemäß der Baunutzungsverordnung. Durch das Senken der Emissionsgrenzwerte wird das Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe erleichtert. Auf Grundlage der Gebietskategorie „urbanes Gebiet“ wird bei Bauvorhaben ein Anteil von Gewerbe, darunter auch von nichtstörendem produzierendem Gewerbe vorgeschrieben (eine entsprechende Ergänzung der Kategorie „urbanes Gebiet“ vorausgesetzt).

    Neben der Förderung von Gewerbe unter-stützt die Strategie auch Urban Farming und urbane Energieproduktion. Ehrenamtlich oder gewerblich organisierte Grup-pen bewirtschaften Brachflächen, legen Hochbeete an, betreiben Imkereien und Aquaponik-Anlagen. Um dies zu ermöglichen, werden einzelne öffentliche Brachflächen vor Bebauung geschützt und Brachen sowie andere ungenutzte Flächen für Urban Farming freigegeben.

    Jenseits des Selbstverbrauchs verkaufen die Stadtfarmer ihre Lebensmittel auf Wochen-märkten und liefern sie zur Weiterverarbeitung an lokale Restaurants und Gewerbebetriebe. Urbane Produktion wird kommunikativ durch öffentliche Kampagnen begleitet. Diese zielen auf ein erhöhtes Verbraucherinteresse, indem sie auf den Beitrag urbaner Produkte zur Vermeidung von Verkehr, kontrollierte Qualität und regionale Wertschöpfung verweisen.


Die Ergebnisse stützen sich auf eine zweistufige Delphi-Befragung von 322 (Juli 2019) bzw. 211 (September 2019) Personen, die durch ihre berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit über Expertise im Bereich urbane Logistik, Verkehr und Mobilität sowie Stadtentwicklung verfügen. Sie arbeiten in den Bereichen Verwaltung, Politik, Wissenschaft/Forschung, Wirtschaft und NGOs.

Originalpublikation: Richter, Ralph; Söding, Max; Christmann, Gabriela (2020): Logistik und Mobilität in der Stadt von morgen. Eine Expert*innenstudie über letzte Meile, Sharing-Konzepte und urbane Produktion. Forschungsbericht. IRS Dialog 1/2020. Erkner

Mehr zum Thema Mobilität auch im gleichnamigen factory-Magazin, das kostenlos zum Download steht. Im Themenbereich sind einige Beiträge daraus online und lassen sich dort kommentieren.

Zurück

RSS-Feed

2024

2023

2022

2021

2020

2019

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011