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Die Anti-Kohle-Kette macht sich stark

An diesem Samstag liefern sich Pro-Kohle- und Anti-Kohle-Aktivisten ein Kräftemessen auf der Straße, die einen in Berlin, die anderen am Tagebau Garzweiler. Wer hat die besseren Argumente?

Möglicherweise entscheidet das Wetter. Doch das Klima für die Anti-Kohle-Fraktion ist gut, die Braunkohle ist als Klimakiller identifiziert und bekannt, bei der stark subventionierten heimischen Steinkohle ist der Abschied schon fast final, die hiesigen Steinkohle-Kraftwerke werden fast ausschließlich mit kolumbianischer, chinesischer oder sonstiger Übersee-Kohle betrieben. Die gefühlten Sympathien der Bevölkerung sind auf Seiten der "Antiko", der Anti-Kohle-Aktivisten. Sie machen seit Monaten mobil für eine Menschenkette am Braunkohle-Tagebau Garzweiler im niederrheinischen Revier. Morgen, am 25. April 2015 ist es soweit: 7,5 Kilometer soll sie lang werden, "Tausende Menschen aus ganz Deutschland" werden erwartet, so die heutige Meldung Netzwerks Campact. Angestrebt werden mehr als 10000 Teilnehmer – besser mehr, denn zeitgleich mobilisieren die Gewerkschaften IGBCE und Verdi zur Pro-Kohle-Demo nach Berlin. Ihre Sorge: der Verlust der Arbeitsplätze, Hunderttausende sollen es sein. Der Klimawandel ist ihr Thema nicht.

Anders auf der anderen Seite der Republik. Der Verlauf der Anti-Kohle-Kette ist genau berechnet: Er markiert am Tagebau Garzweiler jene Linie, an der die Bagger eigentlich stoppen müssten, damit Deutschland seine Klimaschutzziele einhalten kann. Die organisierte Rückendeckung ist groß: Zahlreiche Umwelt- und Entwicklungsorganisationen sowie Kirchen rufen bundesweit zu den Protesten auf. Ihre Forderung an die Regierung: Die schmutzigsten Kohlekraftwerke sofort abzuschalten und einen Fahrplan für den kompletten Ausstieg aus der Kohleverstromung bis spätestens 2040 vorzulegen.

Auftrieb bekommt die Antiko-Bewegung durch den von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) geplanten Klimabeitrag für alte und besonders schmutzige Kohlekraftwerke. Er wird von den Organisatoren der Kette als erster wichtiger Schritt begrüßt. Die Argumente sind dabei auf Seiten der Kohle-Kritiker, denn der fortschreitende Klimawandel zeigt sich bereits heute in vielen Teilen der Welt in zunehmenden Überflutungen, Stürmen und Dürren. Nicht zuletzt sind viele der Konflikte und Armutssituationen, die Menschen in die Flucht treiben, aufgrund sich verändernder Nahrungsmittelproduktion und fehlender Umverteilung entstanden. Um die katastrophalen Folgen der Erderwärmung in beherrschbaren Grenzen zu halten, müssen laut Studien führender Klimawissenschaftler drei Viertel der globalen fossilen Energievorräte im Boden bleiben. Wenn es die deutsche Bundesregierung ernst meint, müsste das Energiewendeland hier voran gehen. Schließlich gehören die deutschen Braunkohlevorkommen zu Europas größten CO2-Quellen.

Die Kohlelobby hat an ihrem Weiterbetrieb größtes Interesse. Ihre größten Sympathisanten erhofft sie sich in den Arbeitern und Angestellten der Braunkohletagebauen und -kraftwerke sowie der Steinkohlekraftwerke. Entsprechend mobilisieren die Gewerkschaften IGBCE und Verdi nach Berlin. Ihre Chefs, Michael Vassiliadis und Frank Bsirske, sind Mitglieder bei SPD und den Grünen. Was Bsirske dabei bewegt, ist nicht so ganz klar, dass Vassiliadis ein Kohlefreund ist, steht schon länger fest. Doch statt den unausweichlichen Strukturwandel weg von der Kohle hin zu den Erneuerbaren aktiv zu gestalten und den Mitgliedern eine langfristige Zukunft zu eröffnen, klammern sich  an die Kohle. Dabei geht es den Kritiker eben auch um einen sozialverträglichen Strukturwandel. Schon bei der heimischen Steinkohle hat der lange genug gedauert, bis 2040 ist ebenfalls Zeit genug. Doch die Lobby dramatisiert mit Schreckenszahlen. "100.000 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Nicht mit uns. Es reicht. Wir wehren uns!" heißt es im Demo-Aufruf nach Berlin. Der Klima-Lügendetektor weist ganz richtig darauf hin, dass der Bundesverband Braunkohle gerade eine Statistik über die Beschäftigten veröffentlicht hat. 21089 Menschen waren demnach Ende Februar in der Branche beschäftigt. Selbst wenn man alle mitzähle, die irgendwie am Braunkohletopf dranhingen, so der Klima-Lügendetektor, käme man selbst mit den zuliefernden Bäckern an die Werkskantine nicht auf 100.000 Arbeitsplätze.

4700 Arbeitsplätze gingen durch die geplante Klimaschutz-Abgabe für alte Kohlekraftwerke im Braunkohle-Sektor verloren, rechnet das Umweltbundesamt (UBA) laut Handelsblatt vor. „Beschäftigungsverluste von bis zu 100.000 Arbeitsplätzen in der Kohlewirtschaft entbehren jeder Grundlage“, heiße es in einer Studie der Umweltbehörde, die der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vorläge. Weil die geplante Abgabe die Braunkohleemissionen um 22 Prozent senken solle, nimmt man einen vereinfachten Beschäftigungsrückgang in gleicher Höhe an. 22 Millionen Tonnen Kohlendioxid soll die Abschaltung alter Kraftwerke einsparen – bis 2020. Sie sind notwendig, um das gesetzte Klimaziel von 40 Prozent weniger Emissionen (gegenüber 1990) überhaupt zu schaffen. Selbst Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) sagte der dpa, dass es wenig hilfreich sei, mit übertriebenen Zahlen zu operieren. „Tatsache ist, dass der Strukturwandel in der Stromerzeugung seit Jahren im Gange ist", zitiert das Handelsblatt. Die Beschäftigungszahlen würden seit 15 Jahren sinken. Diese Entwicklung werde sich unabhängig vom Klimaschutzbeitrag fortsetzen. „Statt sich dem unaufhaltsamen Strukturwandel entgegenzustemmen, müssen wir ihn sozial gestalten, um Strukturbrüche zu vermeiden“, sagte Hendricks. Dabei sind 90 Prozent der Kohlekraftwerke von Gabriels Gesetz nicht betroffen.

Fest steht, dass der Umbau der fossilen Industrie nicht ohne Arbeitsplatzverluste gelingt. Gleichzeitig entstehen in einer erneuerbaren Energiewirtschaft mit dezentraler Versorgung viele neue Arbeitsplätze. Die Energiewende ist praktisch das Jobwunder der letzten Jahrzehnte. Schon 370.000 Arbeitsplätze sollen entstanden sein, laut einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums kommen bis 2030 weitere 100.000 hinzu, bis 2040 190.000 und bis 2050 sogar über 230.000 Stellen. Kommt hinzu, dass das Klima entlastet wird und die Gesundheitsbelastung durch Feinstaub und Quecksilber reduziert wird, weniger Menschen ihre Häuser verlassen müssen, alte Urwälder und Naturschutzgebiete wie der Hambacher Forst erhalten blieben.

Die Forderung, die Braunkohle bis 2030, die Steinkohle bis 2040 vom Netz zu nehmen, ist also nicht nur klima- und umweltgerecht, sondern ließe sich auch sozialverträglich gestalten. Der Dämon des massiven Arbeitsplatzverlustes, den die Gewerkschaften wieder einmal beschwören, beschreibt nicht einmal die Wirklichkeit und wird kaum dazu führen, dass die Öffentlichkeit sie ernst nehmen wird. Damit also am Samstagabend bei der Tagesschau die Anti-Kohle-Engagierten die Bilder und Zahlenbilanz bestimmen, fordert Campact dazu auf, sich die Hand zu reichen, wo demnächst die Bagger baggern sollen. "Ein bunter und fröhlicher Protest, der klar macht: Der Kohle gehört die Vergangenheit, die Zukunft liegt bei den Erneuerbaren."

Die Kette ist gut zu erreichen: Aus vielen Städten fahren Busse. Wo genau, zeigt die Mitfahrbörse. Für Bahnreisende ist von den Bahnhöfen Erkelenz und Hochneukirch ein Shuttle-Verkehr eingerichtet.

Welche Wirkungen der Braunkohleabbau in Ostdeutschland hat, zeigt unsere Fotoreportage im factory-Magazin Sisyphos.

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