Glück-Wunsch

Ein schöner Tag

Menschen statt Autos auf den Straßen, fröhliche Gesichter, keine Hektik: Aktionen wie der „Autofreie Sonntag“ oder der „Tag des guten Lebens“ zeigen, dass sich für Menschen abseits von üblichen Konsumgewohnheiten echte Wünsche erfüllen.

Von Davide Brocchi

Mit einem Plädoyer für Verzicht erlischt jede Akzeptanz. Als Gewinn muss er beschrieben werden, will man Aufmerksamkeit für einen ressourcenleichten Lebensstil erreichen – und auch dann ist die Skepsis gegenüber der Aufgabe alter Gewohnheiten groß. Doch sind Verzicht und Glück wirklich Gegensätze? Unter anderem zeigt die Geschichte des autofreien Sonntags, wie relativ diese Annahme ist. Einige beispielhafte Stationen:

1973: Mit der Verhängung von vier autofreien Sonntagen reagierte die deutsche Bundesregierung auf die erste internationale Ölkrise. Die Stilllegung des motorisierten Verkehrs schaffte damals neue Erlebnisräume im gesamten Bundesgebiet: Auf den Autobahnen gingen ganze Familien spazieren, junge Menschen fuhren Rollschuh, Senioren Rad. Ohne Autoverkehr zeigten sich die Städte aus einer ganz neuen Perspektive. Wer damals dabei war, erinnert sich noch heute gerne daran.

Seit 2000 gibt es in Brüssel mehrere autofreie Sonntage im Jahr. Am dritten Sonntag im September wird dort sogar die ganze Stadt (161 Quadratkilometer) für Autos gesperrt. Umfragen zeigen, dass die Zufriedenheit der Brüsseler mit dieser Initiative ständig gestiegen ist. Inzwischen sehen 87 Prozent von ihnen den autofreien Sonntag als eine gute oder gar exzellente Initiative. 

2005: Bei einer repräsentativen Umfrage der Stadt Augsburg befürworteten 65 Prozent der Bürger autofreie Sonntage für die Innenstadt. 59 Prozent konnte sich sechs autofreie Sonntage pro Jahr vorstellen, 42 Prozent sogar zwölf. Nur 22 Prozent der Befragten lehnte solche Aktionen ab.

2010: Am 18. Juli beschwerten sich die Bürger kaum, als die Bundesautobahn 40 zwischen Duisburg und Dortmund für ihre Autos gesperrt und für Besucher freigegeben wurde. Drei Millionen Menschen nahmen die Einladung an: Sie frühstückten zusammen an langen Tischen, machten Musik, Kunst und Sport – alles auf der Autobahn. Das Projekt Still Leben – Ruhrschnellweg wurde zu einem der erfolgreichsten und eindrucksvollsten der RUHR.2010 – Kulturhauptstadt Europas. 

2013: Am 15. September fand in Köln der erste „Tag des guten Lebens : Kölner Sonntag der Nachhaltigkeit“ statt. Im Stadtteil Ehrenfeld blieb ein Gebiet, in dem mehr als 20.000 Menschen wohnen, einen ganzen Tag lang für den motorisierten Straßenverkehr gesperrt. Ganze Straßenzüge wurden von Autos komplett befreit, indem mehr als 1.000 alternative Parkplätze für die Anwohner organisiert wurden. Der Verkehrsraum wurde in eine breite „Agora“ umgewandelt: In der altgriechischen Polis war die Agora der zentrale Platz, auf der die direkte Demokratie entstand. Hier fanden Politik, Markt und das kulturelle Leben der Stadt statt. Nach dem Motto „Mehr Platz für Park statt Plätze zum Parken“ wurden einige Parkplätze begrünt. Die Menschen schätzten den nicht-kommerziellen Charakter der Veranstaltung und die entspannte Atmosphäre im Sinne der Entschleunigung. Laut inoffizieller Schätzungen der Polizei nahmen zwischen 80.000 und 100.000 Menschen am Kölner „Tag des guten Lebens“ teil. Die Resonanz in der Presse war groß. Der Kölner Stadtanzeiger kommentierte: „Kölns Stadtentwicklungspolitik braucht mehr solcher Impulse – und viele weitere Tage des guten Lebens“. Ins Leben gerufen hatte den Tag die Agora Köln, ein buntes Bündnis von mehr als 91 Kölner Bürger- und Umweltinitiativen, Unternehmen, Theater und weitere Gruppen, das sich für eine stärkere Bürgerbeteiligung und für eine progressive Transformation der Stadt in Richtung Nachhaltigkeit einsetzt.

Neue Freiheiten

Was zeigen diese Beispiele? Sicher ist, dass die begrenzte Verfügbarkeit von Ressourcen wie Erdöl, die Luftverschmutzung, die Lärmbelästigung oder der hohe Flächenverbrauch für Autoparkplätze (d. h. für nicht genutzte Wagen) ein Umdenken erfordern. Das eigentliche Ziel von autofreien Sonntagen ist die Förderung einer nachhaltigen Mobilität – neben einer Reduzierung des Ressourcenverbrauchs. Gerade in Städten mit einem hohen Straßenverkehrsaufkommen wie Mailand oder Bogotà dienen sie der Gesundheit und der Umweltentlastung. In Brüssel ist der Lärm an autofreien Sonntagen sechs bis acht Mal niedriger; die Stadtluft enthält drei bis vier Mal weniger Stickstoff, an einigen Straßen wird zehn Mal weniger Stickstoffmonoxid als an Arbeitstagen gemessen.

Doch die große Beliebtheit von autofreien Sonntagen lässt sich kaum durch ein hohes Umweltbewusstsein der Bevölkerung erklären. Entscheidend sind hingegen die sozialen und psychologischen Nebeneffekte. Gerade in der autogerechten Stadt hat die Stilllegung des motorisierten Straßenverkehrs eine dramatische Auswirkung auf den Lebensraum. Der Verkehrsraum wird so zum öffentlichen Raum und bildet eine Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Gemeinschaft, kreative Entfaltung oder alternative Lebensweisen. Diese Sehnsucht ist auch das Ergebnis der progressiveren Privatisierung und Kommerzialisierung des urbanen Lebensraums in den letzten Jahrzehnten. Wirtschaftswachstum, Massenkonsum oder schnellere Autos sind nicht mehr Inbegriff von Freiheit, Dynamik und Wohlstand, stehen hingegen für Verstopfung, Autobahnstaus und Stress. Vor diesem Hintergrund ist das Verzichten eine Form des Selbstschutzes, eine Voraussetzung des Glücksbefindens. Autofreie Sonntage bieten die Möglichkeit, zumindest für einen kurzen Moment, aus der „Megamaschine Gesellschaft“, wie sie der 1990 gestorbene amerikanische Architekturkritiker Lewis Mumford genannt hat, auszusteigen.

Glück braucht eine starke Demokratie

In Deutschland steht die Beliebtheit von autofreien Sonntagen im paradoxen Kontrast zum hohen Status des Automobils. Als die Idee „Tag des guten Lebens“ vor der Versammlung einer Kölner Bezirksvertretung vorgestellt wurde, reagierte der grüne Bezirksbürgermeister so: „Wir dürfen die Bürger mit solchen visionären Vorhaben nicht überfordern. Eine autofreie Straße wäre realistischer als ein ganzer Stadtteil.“ Weil nichts verkauft wurde und autofreie Tage als geschäftsschädigend gelten, hatten IHK und City-Marketing das Projekt nicht unterstützt, doch selbst der ADAC fand die Initiative sympathisch. Während Verzicht in Politik und Verwaltung als höchst unpopulär gilt, zeigt der Erfolg von autofreien Sonntagen, dass die meisten Bürger manchmal viel weiter als ihre politischen Vertreter sind. Da die gesellschaftliche Entwicklung nicht vom Glücksverständnis der Bürger bestimmt wird, bleiben autofreie Sonntage eine Randerscheinung. Mit anderen Worten: Glück bedarf einer Stärkung der Demokratie.

Nach der Lehre der US-Politikwissenschaftlerin und Wirtschafts-Nobel-Preisträgerin Elinor Ostrom werden Gemeingüter nachhaltig bewirtschaftet, wenn ihre Nutzer kooperieren und kleine Gemeinschaften bilden, die sich selbstbestimmt und autonom verwalten. Der Tag des guten Lebens in Köln wurde genau nach diesem Prinzip realisiert. Jede Nachbarschaft durfte für einen Tag die eigene Straße „regieren“. Aufgaben wie Absperrung und Reinigung der Straße wurden auf die Anwohner übertragen. Die Sharing-Strategie führte zu einer deutlichen Senkung der Kosten und machte das Projekt erst möglich, denn wegen der hohen Verschuldung kann die Stadt solche Projekte nicht fördern. Die Anwohner sagten, dass sie die Übertragung von Verantwortung als Wertschätzung empfanden, die ehrenamtliche Arbeit als Möglichkeit des Teilhabens und die Gleichberechtigung in der Nachbarschaft genossen haben.

Rückeroberung des öffentlichen Raums

Glück ist eines der wenigen Güter, das ausgerechnet durch das Teilen wächst. „Seit dem Tag des guten Lebens brauche ich 15 Minuten länger, um Brötchen kaufen zu gehen. Ständig werde ich auf der Straße von Nachbarn begrüßt und angesprochen,“ erklärt eine Kölnerin. Die Nachbarschaften, die sich vorher regelmäßig trafen, um den Tag vorzubereiten, treffen sich nun weiter, zum Beispiel um die Umgestaltung des Kinderspielplatz nebenan in die Hand zu nehmen. Viele wollen eine Wiederholung des Tag des guten Lebens in ihrem Stadtteil und sind dafür bereit, noch mehr Verantwortung zu übernehmen.

Wer einmal einen autofreien Sonntag organisiert hat, kommt zu einer weiteren wichtigen Erkenntnis: Die meisten Ressourcen benötigt man nicht, um das gute Leben und die nachhaltigen Alternativen zu realisieren, sondern um Räume dafür zu öffnen. Die größte Anstrengung liegt in der Umleitung des Autoverkehrs, in der Absperrung und der Kontrolle der Grenzen des autofreien Gebiets, in der Erfüllung der vielen Vorschriften für die Nutzung des öffentlichen Raums durch die Bürger. Sobald der Raum frei ist, entstehen Nachhaltigkeit, Gemeinschaft und gutes Leben fast von selbst. Das war die beeindruckende Erfahrung am 15. September in Köln.

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