Besser bauen

Nachhaltig und schön. Ein Widerspruch?

Handelt es sich bei Baukultur um ein Luxusgut, das viel Geld kostet, aber nicht mit den wachsenden Anforderungen an das nachhaltige Bauen kompatibel ist? Nein, denn bis zur Industrialisierung war unsere Baukultur immer dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet. Und sie könnte auch in Zukunft dazu beitragen, dass wir besser und nachhaltiger bauen.

Von Tim Rieniets


Nicht jeder weiß, was sich hinter dem Begriff Baukultur genau verbirgt. Es klingt zunächst nach gutem Handwerk, nach hochwertigen Materialien und nach schöner Gestaltung. Es klingt nach guter Architektur! Und gute Architektur mag im Prinzip jeder. Doch geht es an die Umsetzung, geraten die architektonischen Ansprüche schnell in Konflikt mit den vielen anderen Anforderungen, die heutzutage an das Bauen gestellt werden. Brandschutz, Schallschutz, Barrierefreiheit und Energieeffizienz, das alles muss beim Bauen beachtet werden. Da bleibt die so genannte gute Architektur schon mal auf der Strecke, irgendwo zwischen Normen, Verordnung und Sparzwang.

Auch, wenn es um die ökologische Nachhaltigkeit geht, kann es zu Konflikten mit der guten Architektur kommen. Während die einen darauf drängen, dass unsere Gebäude immer klimafreundlicher werden, beklagen sich die Architekten darüber, dass ihre Gestaltungsfreiheit aufgrund der gültigen Verordnungen immer weiter eingeengt wird. Und Denkmalschützer geben schon seit langem zu bedenken, dass im Namen des Klimaschutzes wertvolle Fassaden geopfert werden, die für immer hinter konturlosen Dämmstoffplatten verschwinden. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass das Bauen in den vergangenen Jahren immer teurer, aber die Architektur nicht schöner geworden ist. 

Ist Baukultur also nur ein Luxusgut, das viel Geld kostet und obendrein nicht mit den wachsenden Anforderungen an das nachhaltige Bauen kompatibel ist? Das könnte man so sehen – zumindest dann, wenn man Baukultur als autonome Kunstgattung versteht, die für sich das Recht beansprucht, ihre gestalterischen Ansprüche notfalls auch gegen die ökologische Vernunft zu behaupten. Aber man kann Baukultur auch ganz anders sehen. Eben nicht als autonome Kunstgattung, sondern als eine Kulturtechnik, die seit jeher den Prinzipien der Nachhaltigkeit verpflichtet war.

Das Schöne der Nachhaltigkeit

Beginnen wir zunächst mit einem Blick in den Duden. Der Begriff Baukultur ist nicht zu finden, wohl aber seine beiden Bestandteile „Bauen“ und „Kultur“. Und was man dort über diese Wörter findet, ist überraschend. Denn obwohl sie unterschiedlicher Herkunft sind und heute ganz unterschiedliche Bedeutungen haben, sind sie sich in ihrer ursprünglichen Bedeutung sehr ähnlich. Das Wort Bauen (von mittelhochd. bûwen und althochd. bûan) bezeichnete ursprünglich nämlich nicht nur die Tätigkeiten des Bauens und Wohnens, sondern auch die des Ackerbaus. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Wort Kultur (von lateinisch colere), das so viel bedeutete wie „pflegen“ und „bauen“. Aber es war auch im Sinne des landwirtschaftlichen „Anbauens“ zu verstehen. 

Interessant ist aber nicht nur, dass beide Begriffe ursprünglich eine ähnliche Bedeutung hatten. Sie machten auch keinen Unterschied zwischen Baukultur und Agrikultur. Offenbar war es sinnfällig, beides in einem Wort benennen zu können. Heute erscheint das eher unverständlich, schließlich sind wir es gewöhnt, Baukultur und Agrikultur als grundsätzlich verschiedene Konzepte zu betrachten: Das eine steht für den gebauten Raum – für Architektur, Stadt, Urbanität – während das andere für den unbebauten Raum steht, der von Landwirtschaft und ländlichen Lebensweisen geprägt ist. Aber so gegensätzlich uns diese beiden Konzepte heute erscheinen mögen, so sehr lohnt sich der Blick auf ihre Gemeinsamkeiten.

Zunächst kann man festhalten, dass Baukultur und Agrikultur auf das gleiche, kulturgeschichtlich Motiv zurückzuführen sind: nämlich auf das Streben der Menschen, sich vom Urzustand der Natur zu befreien. Dieses Motiv war es nämlich, das die Menschen dazu veranlasste, die jahrtausendealten Praktiken des Jagens und Sammelns hinter sich zu lassen und an ihrer Stelle die Landwirtschaft zu betrieben. Zu diesem Zweck rangen sie der Natur Weide- und Ackerland ab, bearbeiteten den Boden und züchteten Pflanzen und Tiere für den eigenen Bedarf. Und sie wurden sesshaft, denn Landwirtschaft erforderte räumliche Kontinuität. Ein paar Jahrtausende später gingen aus dieser Sesshaftigkeit schließlich die ersten Städte hervor, und mit ihnen all das, was wir heute unter dem Begriff Baukultur subsummieren.

Beide Kulturtechniken, Agrikultur und Baukultur, waren Meilensteine in der zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit. Beide trugen gleichermaßen dazu bei, sich aus der Abhängigkeit von der Natur zu lösen und das eigene Lebens- und Arbeitsumfeld selber zu gestalten. So entstanden Kulturlandschaften auf der einen und Stadtlandschaften auf der anderen Seite.

Mit der Entwicklung der Landwirtschaft eigneten sich die Menschen ein völlig neues Verhältnis zu ihrer Umwelt und den darin enthaltenen Ressourcen an. Während sich die Jäger- und Sammlergesellschaften intuitiv und spontan an den verfügbaren Ressourcen bedienten, mussten die agrarischen Gesellschaften erst lernen, ihre Ressourcen planvoll und vorausschauend zu nutzen. Sie mussten Felder abstecken, Aussaat und Ernte terminieren, Arbeit einteilen und den Verzehr der Ernte rationieren. Schließlich musste ein Teil der Ernte zurückgehalten werden, um damit die nächste Aussaat machen zu können.

Der Umgang mit den natürlichen Ressourcen musste darauf ausgerichtet werden, das agrarische Versorgungssystem aufrecht zu erhalten, Ackerland, Saatgut oder menschliche Arbeitskraft nicht zu übernutzen. Heute würden wir das als nachhaltige Landwirtschaft bezeichnen. Diesem Prinzip folgte auch die Baukultur die längste Zeit ihrer Geschichte. Denn in Bauwerken waren wertvolle Stoffe und ebenso wertvolle Arbeitskraft gebunden. Die intensive Nutzung dieser Ressourcen war ein Gebot der Wirtschaftlichkeit. Gebäude wurden immer wieder angepasst und umgebaut. Und wenn sie schließlich das Ende ihrer Lebensdauer erreicht hatten, dann wurden ihre Baustoffe und Bauteile oft an anderer Stelle wiederverwendet. Was heute unter Begriffen wie Zwischennutzung, Bauteilbörsen oder „Urban Mining“ (Rohstoffgewinnung aus dem baulichen Bestand) als Innovation gefeiert wird, war in vorindustrieller Zeit fester Bestandteil der Baukultur. 

Was unter den damaligen Voraussetzungen an Architekturen und Städten entstanden ist, erfüllt uns noch heute mit großer Faszination. Nicht aufgrund ihres Komforts oder ihres technischen Standards, denn diese waren aus heutiger Sicht eher bescheiden. Uns faszinieren diese Architekturen und Städte deshalb so sehr, weil man an ihnen Geschichte sehen und erleben kann. Und weil sie zeigen, wie nachhaltiges Wirtschaften und architektonische Gestaltung miteinander harmonieren können.

Zurück zu einer nachhaltigen Baukultur?

Mit der Industrialisierung trat das Prinzip der Nachhaltigkeit, das bis dato in der Agrikultur und auch in der Baukultur angelegt war, immer weiter in den Hintergrund. Die Landwirtschaft wurde durch den Einsatz von Landmaschinen und Kunstdünger revolutioniert und auch die Baukultur wurde einem weitreichenden Transformationsprozess unterzogen: Öfen, Schmelzwannen und Walzwerke sorgten dafür, dass Baumaterialien in großen Mengen produziert werden konnten; die Arbeitskraft von Menschen und Nutztieren wurde durch motorgetrieben Baumaschinen abgelöst; und lokale Strukturen der Bauwirtschaft wurden durch ausgedehnte Wertschöpfungsketten verdrängt.

Es wurde eine riesige Maschinerie in Gang gesetzt, angetrieben durch Kohle, Öl und Gas. Mit dieser Maschinerie konnte die Produktivität gesteigert und die Baukosten erheblich gesenkt werden. Die alten Techniken des Umbauens, Weiterbauens und Wiederverwendens, die bis dato praktiziert wurden, verloren gegenüber dieser Entwicklung an Bedeutung.

Heute ist unsere Baukultur der mit Abstand ressourcenintensivste Tätigkeitsbereich unserer Gesellschaft. Etwa 600 bis 700 Millionen Tonnen mineralische Baustoffe verschlingt die deutsche Bauwirtschaft Jahr für Jahr. Im gleichen Zeitraum verursacht sie etwa 200 Millionen Tonnen mineralischer Abfälle. Auch hier nimmt die Bauwirtschaft den Spitzenplatz ein. Hinzu kommen große Mengen an Energie, die für die Gewinnung von Baustoffen, deren Verarbeitung, Transport, Montage und Entsorgung benötigt werden. 

Die Bauwirtschaft bemüht sich seit langem, ihrer ökologischen Verantwortung gerecht zu werden, indem sie ihre Produkte optimiert: Die Baustoffe werden effizienter, die Haustechnik sparsamer und der Wärmeschutz immer wirkungsvoller. So konnten in den vergangenen Jahrzehnten beachtliche Fortschritte auf einzelnen Gebieten erzielt werden. Aber trotz aller Fortschritte hat sich der durchschnittliche Primärenergiebedarf der deutschen Haushalte kaum verbessert. Und der Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen ist bleibt bis auf weiteres ein ungelöstes Problem. 

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Bauwirtschaft dazu übergehen muss, nicht nur ihre Produkte zu optimieren, sondern auch sich selbst. Nur wenn es ihr gelingt, ihren Bedarf an Energie und nicht erneuerbaren Ressourcen zu senken, kann die Bauwirtschaft glaubhaft dazu beitragen, dass wir unsere Umweltziele erreichen.

Gewiss, eine solche Entwicklung würde viele Veränderungen und auch Einschränkungen mit sich bringen. Aber die müssen nicht zum Nachteil für unsere Baukultur sein, wie der Blick in die Vergangenheit zeigt. Vielleicht könnte uns die Baukultur sogar dabei behilflich sein, gute und nachhaltige Architektur zu bauen, wenn wir uns wieder ins Gedächtnis rufen, dass Baukultur und Nachhaltigkeit keine Gegensätze sind.???

Tim Rieniets ist Herausgeber von „Die Stadt als Ressource“ (Jovis) und Geschäftsführer der Landesinitiative StadtBauKultur NRW, wo er zahlreiche Fachveranstaltungen, Publikationen und Pilotprojekte zum Thema nachhaltiges Bauen realisiert hat.

Mehr Beiträge zum Thema Nachhaltiges, ressourceneffizientes Bauen im factory-Magazin Besser Bauen. Das steht kostenlos zum Download, ist schön illustriert und mit sämtlichen Beiträgen, Zahlen und Zitaten angenehm lesbar auf Tablets und Bildschirmen. Online im Themenbereich sind zunächst nur einige Beiträge verfügbar – dafür lassen sie sich dort auch kommentieren und bewerten.

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